Medizin
Nr. 2 • Februar 2013
13
Kasuistik
Anamnese
Der 56-jährige Patient wurde am frü-
hen Abend in unserer Notaufnahme
vorstellig, weil er seit dem Vormittag
Sodbrennen verspürt hatte. Im Laufe
des Nachmittags waren ein beklem-
mendes Gefühl im Thoraxbereich und
Schweißausbrüche hinzugekommen,
die zum Aufnahmezeitpunkt nahezu
abgeklungen waren. Thorakale
Schmerzen wurden verneint. Beste-
hende kardiovaskuläre Risikofaktoren
waren eine arterielle Hypertonie, die
mittels Candesartan behandelt wurde,
und Adipositas (BMI: 120 kg/ (1,83 m
× 1,83 m) = 35,8 kg/m²).
Körperlicher Untersuchungsbefund
Patient in gutem Allgemein- und adi-
pösem Ernährungszustand. Tempera-
tur: 36,4 °C, Herzfrequenz 68/min,
RR 160/90 mmHg, Größe 183 cm,
Gewicht 120 kg. Herztöne rein, keine
Herzgeräusche. Herzaktion rhyth-
misch. Peripherer Pulsstatus unauffäl-
lig. Pulmo mit vesikulärem Atemge-
räusch und ohne Rasselgeräusche.
Abdomen weich, ohne Druckschmerz.
Darmgeräusche regelrecht in allen
vier Quadranten auskultierbar. Keine
peripheren Ödeme, Haut und
Schleimhäute unauffällig. Grob orien-
tierende neurologische Untersuchung
unauffällig.
Untersuchungsbefunde
Aufnahme-EKG:
Sinusrhythmus,
Linkstyp, Herzfrequenz 68/min, nicht
signifikante ST-Hebung in V2, T-Erhö-
hung in V1 und V2. T-Welle in V1
positiv (> 0,15 mV), größer als T-
Welle in V6 (Abb. 1).
Aufnahmelabor:
Blutbild, Leber-
werte, Elektrolyte, TSH unauffällig.
Kreatinin auf 1,19 mg/dl erhöht. Das
Troponin I ultra sensitiv war negativ
(< 0,006 ng/ml), CK und CK-MB
normwertig.
Therapie und Verlauf
Dem diensthabenden Arzt imponier-
ten die Symptome am ehesten als
Refluxkrankheit. Er erwägte jedoch
aufgrund der EKG-Veränderungen
und dem thorakalen Engegefühl mit
vegetativer Begleitsymptomatik ein
akutes Koronarsyndrom, weshalb der
Patient auf unsere Intermediate-Care-
Station aufgenommen wurde. In einer
EKG-Kontrolle ca. vier Stunden nach
Krankenhausaufnahme waren die ini-
tial gesehenen T-Erhöhungen leicht
regredient, die T-Welle in V1 war wei-
terhin positiv und größer als in V6
(Abb. 2). ST-Hebungen oder T-Negati-
vierungen waren nicht zu beobach-
ten. Eine Troponin-Kontrolle nach ca.
vier Stunden ergab ein deutlich posi-
tives Troponin I ultra sensitiv von
1,519 ng/ml (Norm: 0,02 - 0,06
ng/ml), sodass bei Nicht-ST-Hebungs-
infarkt (NSTEMI) ASS, Heparin und
Ticagrelor verabreicht wurden. Der
Patient wurde am frühen Morgen des
nächsten Tages zur Koronarangiogra-
phie in eine andere Klinik verlegt.
Echokardiographisch zeigte sich vor
der Koronarangiographie eine gute
linksventrikuläre Pumpfunktion bei
septoapikaler Hypokinesie.
Die Koronarangiographie ergab eine
koronare 3-Gefäß-Erkrankung. Bei
Linksversorgungstyp imponierte eine
signifikante 95 %ige Stenose des
medialen Ramus interventricularis
anterior (RIVA), 40 %ige Stenose der
Bifurkation RIVA RD1, 40 %ige Stenose
der proximalen RD1, 40 %ige Stenose
des proximalen PLA2, 50 %ige der
proximalen rechten Herzkrankarzte-
rie (RCA). Es erfolgte die prima-vista
perkutane transluminale koronare
Angioplastie (PTCA) mit Implantation
eines medikamentenfreisetzenden
Stents des medialen RIVA von 95 %
auf 0 %. In einem EKG nach der
PTCA/Stent-Implantation zeigten sich
keine Veränderungen im Vergleich
mit dem in unserer Abteilung ca. vier
Stunden nach Krankenhausaufnahme
geschriebenem EKG (Abb. 2).
Diskussion
Die T-Welle des 12-Kanal-EKGs ent-
spricht der ventrikulären Erregungs-
rückbildung [10], wobei die T-Welle
in V1 die Repolarisation im Bereich
des anterioren und posterioren Myo-
kards repräsentiert [8]. In der euro-
päischen und amerikanischen Bevöl-
kerung liegen die Prävalenzen für
eine positive T-Welle in V1 bei einem
gesunden Menschen bei 9 % [5], 20 %
[7] und 26 % [9], wobei die unter-
schiedlichen Prävalenzen vor allem
durch variierende Definitionen für
eine positive T-Welle bedingt sind.
Eine positive T-Welle in V1 kann bei
einem gesunden Menschen durch
stärkere Repolarisationskräfte im
Bereich des anterioren im Vergleich
zum posterioren Myokard bedingt
sein [1, 3]. Bei Linksschenkelblock ist
die T-Welle regelmäßig positiv, eine
signifikante linksventrikuläre Hyper-
trophie kann ebenfalls mit einer posi-
tiven T-Welle einhergehen. Bei unse-
rem Patienten lag ebenfalls eine posi-
Die positive T-Welle in V1 als Hinweis
auf eine signifikante KHK
Kasuistik
Thorakale Beschwerden sind eine häufige Ursache für eine Vorstellung in einer Notaufnahme. Das
12-Kanal-EKG sowie die Bestimmung der Herzenzyme werden routinemäßig im Rahmen der Diagnostik
eines akuten Koronarsyndroms eingesetzt. T-Wellen-Veränderungen werden bei bis zu 30 % der Patienten
mit potenziellem akutem Koronarsyndrom gesehen [4]. Große Studien an jungen Männern haben jedoch
gezeigt, dass viele T-Wellen Veränderungen unspezifisch sind [2]. Daher ist die Kenntnis von spezifischen
T-Wellen-Veränderungen von großer klinischer Bedeutung, um bei entsprechender Symptomatik frühzei-
tig weitergehende Diagnostik und Therapie einzuleiten. Wir berichten über einen Patienten mit thoraka-
len Beschwerden und einer spezifischen T-Wellen-Veränderung in V1.
Abb. 1
EKG kurz nach Krankenhausaufnahme. Auffallend sind eine nicht-signifikante ST-
Hebung in V2 sowie eine T-Erhöhung in V1 und V2. Die T-Welle in V1 ist positiv (> 0,15
mV) und größer als die T-Welle in V6.
eine gewisse Dunkelziffer, wenn denn
diese Fälle nicht erkannt werden.
Stationären Patienten in Krankenhäu-
sern wird die Tages-Medikation aus
hygienischen Gründen regelhaft in
Tabletten-Dispensern mit der Tablet-
tenverpackung („blister pack“) auf
dem Nachttisch bereitgestellt. Da in
der Vergangenheit bereits über die
versehentliche Einnahme von Tablet-
ten inklusive Blister berichtet wurde
[5], enthalten die Beipackzettel oft-
mals entsprechende Warnhinweise
(z. B.: „Tablette sehbehinderten oder
desorientierten Patienten, sowie Kin-
dern nicht in abgeteilter Blisterhülle
aushändigen"). Besonders bei mental
beeinträchtigten Patienten ist von
einer erhöhten Gefahr eines verse-
hentlichen Verschluckens von Fremd-
körpern auszugehen. Daher sollten
Ärzte und Pflegepersonal bei der
Medikamentenausgabe und -ver-
schreibung eine individuelle Beratung
vornehmen und eine an den individu-
ellen Patienten angepasste Darrei-
chungsform wählen [3, 4].
Bis heute kann sich die rüstige und
kognitiv zu keinem Zeitpunkt beein-
trächtigte Patientin nicht erklären,
wie es zu einer Tabletteneinahme
inklusive Blister kam. Im vorgestellten
Fall wurden dennoch als Vorsichts-
maßnahme für den Zeitraum der
übrigen stationären Behandlung
sämtliche Tabletten unmittelbar vor
Einnahme durch eine Kranken-
schwester aus der Blister-Verpackung
entfernt.
Konsequenz für Klinik
und Praxis
▶ Für die differenzialdiagnostische
Aufarbeitung thorakaler und abdo-
minaler Symptome bilden eine aus-
führliche Anamnese und eine
gründliche körperliche Untersu-
chung in den meisten Fällen den
Grundstein zur richtigen Diagnose.
▶ Auch wenn die endgültige Diagnose
bei einem akuten Abdomen häufig
erst „auf dem OP-Tisch“ gestellt
werden kann, haben sich die kör-
perliche Untersuchung, die Labor-
diagnostik und eine rational einge-
setzte bildgebende Diagnostik als
sehr hilfreich erwiesen.
▶ Zur Vermeidung einer fehlerhaften
Einnahme und der Digestion von
Verpackungsanteilen sollte insbe-
sondere bei sehbehinderten oder
kognitiv beeinträchtigten Men-
schen eine an den Patienten indivi-
duell angepasste Darreichungsform
der Medikamente gewählt werden.
Autorenerklärung: Die Autoren erklä-
ren, dass sie keine finanziellen Ver-
bindungen mit einer Firma haben.
deren Produkt in diesem Artikel eine
wichtige Rolle spielt (oder mit einer
Firma, die ein Konkurrenzprodukt
vertreibt).
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1 Medizinische Klinik II (Kardiologie und
Angiologie), Universitätsklinik Marien-
hospital Herne, Klinikum der Ruhr-Uni-
versität Bochum
2 Institut für Diagnostische und Inter-
ventionelle Radiologie und Nuklearmedi-
zin, Universitätsklinikum Herne, Klini-
kum der Ruhr-Universität Bochum
Korrespondenz
Benjamin Sasko
Medizinische Klinik II, Schwerpunkt Kar-
diologie und Angiologie, Marienhospital
Herne, Ruhr-Universität Bochum
Hölkeskampring 40
44625 Herne
eMail: benjamin-michel.sasko@
marienhospital-herne.de
Der Beitrag ist erstmals erschienen in der
Deutschen Medizinischen Wochenschrift
(Dtsch Med Wochenschr 2012; 137:2637–
2640). Alle Rechte vorbehalten.
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