Anamnese
Die 70-jährige Patientin wurde auf-
grund rezidivierender linksthorakaler
Beschwerden stationär aufgenom-
men; es bestand der Verdacht auf das
Fortschreiten einer bekannten koro-
naren Herzerkrankung. Als Begleit-
erkrankungen waren eine arterielle
Hypertonie, ein medikamentös einge-
stellter Diabetes mellitus Typ 2, eine
Hypothyreose sowie eine Appendek-
tomie in der Kindheit. Die elektiv
durchgeführte Koronarangiographie
ergab eine hochgradige Stenose des
Ramus interventricularis anterior
(RIVA) im Abgangsbereich des 1. Dia-
gonalastes, sodass ein Medikamenten-
beschichteten Stent implantiert
wurde. Im Rahmen dieser Interventi-
on kam es zu einer Koronarperforati-
on, die klinisch ohne Relevanz blieb
(Abb. 1). Der weitere postinterventio-
nelle Verlauf gestaltete sich zunächst
komplikationslos, und die Patientin
wurde auf eine leitliniengerechte
medikamentöse Therapie der korona-
ren Herzkrankheit (mit Acetylsalicyl-
säure 100 mg, Clopidogrelsulfat
75 mg, Metoprololsuccinat 95 mg,
Losartan 25 mg, Hydrochlorthiazid
12,5 mg, Simvastatin 40 mg) einge-
stellt.
Fünf Tage nach der Koronarinterventi-
on klagte die Patientin plötzlich über
epigastrisches Druckgefühl. Diese
Beschwerden wurden aufgrund des
vorbeschriebenen interventionellen
Eingriffs zunächst als atypische Angi-
na pectoris gewertet.
Körperlicher Untersu-
chungsbefund
Die Patientin befand sich in gutem
Allgemein- und adipösem Ernäh-
rungszustand (Größe 164 cm,
Gewicht 94 kg). Bei stabiler Hämody-
namik (RR 120/60 mmHg, Herzfre-
quenz 80/min) bestanden auskultato-
risch reine und rhythmische Herztöne
ohne begleitendes Herzgeräusch.
Pulmo beidseits mit vesikulären
Atemgeräusch ohne Nebengeräusche.
Bei epigastrischem Druckgefühl
wurde bei der abdominellen Untersu-
chung anfangs lediglich ein leichter
diffuser Druckschmerz angegeben. Bei
der Palpation verstärkten sich die
zunächst nicht sicher lokalisierbaren
Beschwerden der Patientin zu starken
Bauchschmerzen mit Punctum maxi-
mum im rechten unteren Quadran-
ten; ein Loslassschmerz konnte nicht
provoziert werden. Auskultatorisch
bestanden spärliche Darmgeräusche,
die Perkussion sowie digital rektale
Untersuchung waren unauffällig. Fie-
ber bestand nicht (37,0 °C); es traten
jedoch Übelkeit und Erbrechen auf. Im
weiteren Verlauf entwickelte sich eine
deutliche Abwehrspannung des Abdo-
mens bei auskultatorisch weiterhin
vorhandener Peristaltik, so dass auf-
grund des klinischen Bilds eines aku-
ten Abdomens eine weiterführende
Diagnostik eingeleitet wurde.
Klinisch chemische
Untersuchungen
Die laborchemischen Untersuchungen
ergaben bei normwertiger CK, CK-MB
und Troponin (0,209 ng/ml, Grenz-
wert < 0,3 ng/ml) keinen Hinweis auf
eine akute Myokardischämie. Gleich-
zeitig waren die Infektparameter
lediglich mäßig erhöht (Leukozyten
14,6/nl [Normwert: 4-10/nl], C-reak-
tives Protein 7,59 mg/dl [Normwert
< 0,5 mg/dl]). LDH, Lactat und Procal-
citonin waren wie die übrigen Labor-
werte im Normbereich.
Ergänzende Untersuchung
Das Ruhe-EKG zeigte ein normofre-
quentes Vorhofflimmern, Linkstyp,
regelrechte Leitungszeiten sowie vor-
bekannte ST-Streckensenkungen in
den Ableitungen I, aVL sowie V5 und
V6. Hinweise auf eine akute Myokard-
ischämie ergaben sich nicht.
Bildgebende Verfahren
Die zunächst angefertigte Abdomen-
Übersichtsaufnahme erbrachte keine
richtungsweisenden Befunde, es zeig-
ten sich weder freie Luft noch Hin-
weise auf einen Ileus. Aufgrund des
deutlich adipösen Ernährungszustan-
des und fehlender Nüchternheit
wurde auf eine Notfallsonographie
verzichtet, sondern umgehend eine
weiterführende bildgebende Diagnos-
tik mittels Computertomographie des
Abdomen eingeleitet. Diese ergab eine
lokale Peritonitis des rechten Unter-
bauches unter Einbeziehung des ter-
minalen Ileums mit einem kleinen,
extraluminalen Luftnachweis. An die-
ser Stelle ließ sich ein deutlich sicht-
barer Fremdkörper im Darmlumen
darstellen, der einer Tablette mit Ver-
packung (Blister) entsprach (Abb. 2).
Therapie und Verlauf
Die Dünndarmperforation wurde
umgehend durch eine abdominal-
chirugische Notfalloperation versorgt.
Nach medianer Laparotomie zeigten
sich im Bereich des Ileums fibrinbe-
legte Dünndarmschlingen mit begin-
nender umgebender Abszessbildung.
Eine Perforationsstelle war intraope-
rativ nicht sicher lokalisierbar, im
Bereich des alterierten Darmes konn-
te jedoch ein Fremdkörper getastet
werden, welcher nach Ileostomie als
Tablette mit Blister (Metoprololsucci-
nat 95 mg) identifiziert werden konn-
te. Nach Entfernung des Fremdkörpers
und Verschluss des Jejunums erfolgte
eine ausgiebige Spülung des Abdo-
mens und ein schichtweiser Wund-
verschluss. Die Patientin wies nach-
folgend einen unauffälligen Verlauf
auf und konnte nach 7 Tagen völlig
beschwerdefrei und in gutem Zustand
nach Hause entlassen werden. Auf
Nachfrage gab die Patientin bei Ent-
lassung an, dass das Verschlucken des
Blisters versehentlich erfolgt sei und
von ihr selbst nicht bemerkt worden
sei.
Diskussion
Die rasche und zielgerichtete Abklä-
rung eines akuten bzw. neu aufgetre-
tenen abdominellen oder thorakalen
Schmerzes stellt eine alltäglich wie-
derkehrende Herausforderung im
ambulanten und stationären Bereich
dar, die sowohl in Praxen und Ambu-
lanzen als auch in Notaufnahmen und
Chest-Pain-Units der Krankenhäuser
optimal bewältigt werden sollten [1,
8, 9, 11].
Die möglichen Differenzialdiagnosen
des unklaren Abodmens beinhalten
ein breit gefächertes Spektrum von
Erkrankungen, die einerseits eine
Vielzahl von Fachgebieten betreffen
und anderseits harmlose wie auch
akut lebensbedrohliche Erkrankungen
mit einschließen. So kann bei Bauch-
schmerzen beispielsweise eine
Appendizitis als häufige Genese
gefunden werden, jedoch muss auch
an seltenere Ursachen wie eine atypi-
sche Angina pectoris gedacht werden
(z. B. bei einem Hinterwandinfarkt).
Umgekehrt können sich gastrointesti-
nale Erkrankungen auch in Form tho-
rakaler Beschwerden äußern (z. B.
Ösophagitis).
Von besonderer Bedeutung ist neben
der Anamnese und der körperlichen
Untersuchung eine zielgerichtete und
rationale Diagnostik, die nach festge-
legten Standards erfolgen sollte [1, 8,
9, 11]. Eine Leitlinie zur Diagnostik
und Therapie des akuten Abdomen
gibt es derzeit nicht.
Bei Patienten mit unklaren epigastri-
schen Schmerzen, die als atypische
Angina gewertet werden können, soll-
te bei kardialen Vorerkrankungen und
bei zuvor erfolgten Interventionen
der Koronargefäße zusätzlich der Aus-
schluss einer erneuten akuten Myo-
kardischämie wichtiger Bestandteil
der differenzialdiagnostischen Überle-
gungen sein [2]. Insbesondere das
EKG und die Bestimmung des Tropo-
nin können innerhalb kürzester Zeit
Aufschluss über eine eventuelle myo-
kardiale Ischämie geben [6].
In unserem Fall ergab sich im Verlauf
das klinische Bild eines akuten Abdo-
mens, so dass eine Untersuchung mit-
tels Röntgen sowie eine Computerto-
mographie (CT) des Abdomens veran-
lasst wurden. Die CT-Diagnostik ist
bei verschluckten Fremdkörpern
besonders hilfreich, da sie den Fremd-
körper identifizieren und lokalisieren
kann und zudem eine Aussage über
mögliche Folgen der Ingestion (z. B.
Perforation, Blutung) erlaubt [12].
Hierbei ergab sich die Diagnose eines
durch einen Fremdkörper perforierten
Ileums, die eine umgehende erfolgrei-
che Therapie mittels offener Laparo-
tomie erforderlich machte. Im vorge-
stellten Fall gelang es, den Fremdkör-
per exakt und zweifelsfrei mit CT-
Diagnostik darzustellen. Zudem
demonstriert die vorliegende Kasuis-
tik, dass thorakalen und abdominellen
Schmerzen bzw. der Arbeitsdiagnose
„unklares Abdomen“ auch ungewöhn-
liche Ursachen zugrunde liegen kön-
nen.
Das versehentliche Verschlucken von
Fremdkörpern (z. B. Fischgräten, Kno-
chen, Steine, Obstkerne, Murmeln
etc.) ist ein häufiges und alltägliches
Ereignis, welches in der Regel ohne
Folgen bleibt. In 10 - 20 % der Fälle ist
eine nicht-operative Intervention
(z. B. Gastroskopie) notwendig. Die
Inzidenz einer Perforation eines Hohl-
organs infolge Fremdkörper-Ingestion
liegt bei weniger als 1 % aller Fälle [3,
7, 10]. Möglicherweise gibt es hier
Medizin
Nr. 2 • Februar 2013
12
Dünndarm-Perforation durch einen ver-
schluckten Tabletten-Blister nach post-
interventioneller Koronarperforation
Kasuistik
Die Arbeitsdiagnose „akutes Abdomen“ hat im klinischen Alltag einen hohen Stellenwert, da Bauch-
schmerzen zu den am häufigsten geäußerten Beschwerden zählen. Die möglichen Ursachen sind breit
gefächert und beinhalten abdominelle sowie extraabdominelle Genesen, sodass das akute Abdomen eine
anspruchsvolle Herausforderung in der Patientenversorgung darstellt. Häufig besteht das Risiko lebensbe-
drohlicher Komplikationen, daher ist eine schnelle und zielgerichtete Diagnostik zwingend erforderlich.
Vital bedrohliche Erkrankungen können sich sowohl mit einem typischen als auch atypischen Beschwer-
debild äußern. Gleichzeitig verursachen die verschiedenen Erkrankungen in ihrer Akutphase ähnliche
Symptome, so dass beim differenzialdiagnostischen Vorgehen in aller Regel mehrere Erkrankungen aus-
geschlossen werden müssen. Wesentliche Bedeutung hat hier eine gründliche Anamnese und körperliche
Untersuchung, der Grundstein für die richtige Diagnose wird hier gelegt.
Abb. 1
Herzkatheterbefund vor (links) und
nach Koronarintervention (rechts) im
Bereich der Bifurkation Ramus interventri-
cularis anterior (RIVA) und 1. Ramus dia-
gonalis (D1): Nachweis eines Kontrastmit-
tel-Paravasats, das vom RIVA ausgeht
(Pfeil) und Restitutio nach erneuter Ballon-
Inflation und entsprechender Wartezeit.
RCX: Ramus circumflexus.
Abb. 2
Multislice-Computertomographie, transversale Schnittebene (a) und koronale
Rekonstruktion (b), mit Nachweis der Tablette in der letzten Ileumschlinge. Die Tablette
wird durch den Blister von einem Luftsaum umgeben. Die entzündlich ödematöse Ver-
dichtung des Fettgewebes und punktförmige extraluminale Lufteinschlüsse (Pfeile) deuten
auf die gedeckte Ileumperforation hin.