Keine Solidarität mehr in der
Ärzteschaft
In dieser Gemengelage handelte Prof.
Häußler gemeinsam mit den Kranken-
kassen einen neuen Erweiterten
Bewertungsmaßstab aus, bei dem die
Beratungs- und Untersuchungsziffern
großzügig bewertet wurden. Den
Krankenkassen war von Anfang an
bewusst, dass Gesprächsleistungen
schlecht kontrollierbar sind und dass
darin ein nicht unerhebliches Miss-
brauchspotenzial steckt. Sie fürchteten
eine massive Ausgabensteigerung
durch eine unkontrollierte Mengen-
ausweitung dieser Leistungen und
haben deshalb den Vorgaben Häußlers
nur unter der Bedingung zugestimmt,
dass zusätzlich ein Honorardeckel ver-
einbart wird. Die Vergütung in Mark
und Pfennig wurde damit durch die
unglückselige Punktwertwährung
abgelöst. Man hat sichergestellt, dass
bei einer Leistungsausweitung –
gleichgültig welcher Leistungen – die
Bewertung der Einzelleistung verfällt.
Das berühmte Hamsterrad war in der
ambulanten Versorgung geboren.
Der neue EBM trat 1987 in Kraft. Die
Folgen waren schnell sichtbar. Bereits
in seiner Abschiedsrede als KBV-Vorsit-
zender äußerte sich Häußler selbstkri-
tisch zu dem von ihm eingeführten
EBM und drückte dabei vor allem
seine Enttäuschung über das Verhalten
der Ärzteschaft aus. Er beklagte einen
zunehmenden Verteilungskampf, um
das begrenzte Geld, der mit einer
gegenseitigen Beschimpfung der Arzt-
gruppen verbunden war. Durch den
EBM war an eine Solidarität innerhalb
der Ärzteschaft auf unabsehbare Zeit
nicht mehr zu denken.
Dieses Problem besteht bis heute. In
den Körperschaften wird um das eige-
ne Honorar gefeilscht, ohne dass Rück-
sicht auf ein gemeinsames Verhand-
lungskonzept der Ärzteschaft gegen-
über den Krankenkassen genommen
wird.
Praxisbudgetierungen als Lösung
In der berufspolitischen Auseinander-
setzung wurde deshalb immer mehr
über feste Preise und über Kostener-
stattung als Alternative zu der Vergü-
tung über einen Erweiterten Bewer-
tungsmaßstab nachgedacht. Der Prota-
gonist dieser Diskussion, Prof. Dr. Win-
fried Schorre, wurde 1993 Vorsitzen-
der der Kassenärztlichen Bundesverei-
nigung. Nach der Übernahme des
Amtes wechselte er nach kurzer Zeit
seine politische Grundüberzeugung.
Unter seiner Leitung initiierte er einen
EBM, der das Prinzip der Deckelung
des vertragsärztlichen Honorars unwi-
dersprochen übernahm. Es stand nach
seiner Meinung gottgegeben nicht
genügend Geld zur Verfügung. Die ein-
fachste Lösung sei deshalb das Prinzip
dieser Budgetierung von der Kassen-
ärztlichen Vereinigung als Institution
auf den einzelnen Vertragsarzt herun-
terzubrechen. Folgerichtig führte er
mit seinem EBM 1996 die Praxisbud-
getierung ein. Damit war eine erhebli-
che Umverteilung des Honorars zwi-
schen den Fachgruppen verbunden, die
die damalige Vertreterversammlung
abgesegnet hat. Wegen der ausufern-
den Gesprächsleistungen sah er sich
außerdem gezwungen, auch noch
rückwirkend Quartale zu budgetieren.
Diese rechtlich mehr als fragwürdige
Aktion musste nach einer Entschei-
dung des Bundessozialgerichtes wieder
verworfen werden. Letzten Endes war
damit auch diese Honorarreform
gescheitert.
1999 trat Dr. Schorre von allen Ämtern
in der KBV zurück. Der Gedanke der
Praxisbudgets setzte sich noch bis in
das neue Jahrtausend in Form der Indi-
vidualbudgetierung fort. Er wurde in
zahlreichen Kassenärztlichen Vereini-
gungen beibehalten. Diese betonten,
dass sie ein fürstliches Honorar mit
einem hohen Punktwert verteilten
und vergaßen dabei, dass bis zu 30 %
der Leistung gekürzt und damit nicht
bezahlt wurde. Bei den Länder-KVen
hat dies später zu erheblichen Verwer-
fungen geführt. Die tatsächlich
erbrachten Leistungen wurden unzu-
reichend dokumentiert und das Leis-
tungsgeschehen somit bei der letzten
Honorarreform hoffnungslos unter-
schätzt. Dies hat bis heute Folgen für
die Finanzausstattung einzelner KVen,
z. B. in Nordrhein.
Weitere Lösungsansätze:
Fachgruppentöpfe und Regel-
leistungsvolumen
Die Vergütung des einzelnen Vertrags-
arztes wird aber nicht nur vom Erwei-
terten Bewertungsmaßstab bestimmt.
Eine immer wichtigere Rolle spielt der
Honorarverteilungsmaßstab auf der
regionalen Ebene. Durch die Einfüh-
rung von Fachgruppentöpfen wurden
die Vorgaben des Erweiterten Bewer-
tungsmaßstaben oft nicht nur korri-
giert, sondern sogar konterkariert. Hier
spielt ein weiterer ordnungspolitischer
Ansatz eine entscheidende Rolle: das
Regelleistungsvolumen. Ursprünglich
als Stein der Weisen gepriesen, ist es
heute das effektivste Instrument einer
restriktiven Honorarpolitik. Der Ver-
tragsarzt darf beim Regelleistungsvolu-
men nur eine ihm vorgegebene
begrenzte Leistungsmenge abrechnen.
Überschreitet er die Vorgabe, wird er
bis auf ein Minimum gnadenlos abge-
staffelt. Bleibt er unter dem Regelleis-
tungsvolumen, verliert er Honorar. Bei
Überschreitung wird ihm nicht nur ein
zu geringes, minimales Honorar ausbe-
zahlt, er bleibt auch noch auf den
zusätzlich entstehenden Kosten seiner
Praxis sitzen. Der Vertragsarzt, der
seine Versorgung nach Erreichen des
Regelleistungsvolumens „einfriert“, ist
der Gewinner. Der, der seine Patienten
weiterversorgt – die KV hat ja den
Sicherstellungsauftrag –, wird bestraft.
In der Zwischenzeit haben einzelne
Kassenärztliche Vereinigungen in der
neu gewonnenen Zuständigkeit für die
Honorarverteilung diese Regelleis-
tungsvolumina endlich außer Kraft
gesetzt. Dennoch führt die Kombinati-
on des Erweiterten Bewertungsmaß-
stabes mit den Honorarverteilungs-
maßstäben, insbesondere mit dem
Regelleistungsvolumen, beim einzel-
nen Vertragsarzt dazu, dass er seine
Abrechnung immer weniger versteht
und nur noch das Auszahlungsergebnis
bewerten kann. Trotz Ausweitung der
Leistung in der Praxis ist es für viele
Arztgruppen zu einer Art degressiver
Gehaltsauszahlung durch die Kassen-
ärztliche Vereinigung gekommen. Für
den Vertragsarzt ist dieses System
damit endgültig intransparent gewor-
den.
Klagen über die „Schätzometrie“
Bereits 1987 klagte der Leiter der KBV-
Honorarabteilung, Dr. Manfres Moeves,
über die in diesem System auftreten-
den Umverteilungen zwischen und
innerhalb von Arztgruppen sowie über
die sinkenden Punktwerte, die zu einer
erheblichen Planungsunsicherheit des
Vertragsarztes führe. Beklagt wurde
auch die nicht transparente Kalkulati-
on der einzelnen EBM-Leistungen,
abwertend „Schätzometrie“ genannt.
Die logische Konsequenz für die Kas-
senärztliche Vereinigung war deshalb,
den EBM durch eine betriebswirt-
schaftliche Kalkulation der einzelnen
Leistungen neu zu ordnen. Damit soll-
te den Krankenkassen, der Politik und
der Öffentlichkeit klargemacht werden,
dass in der gesetzlichen Krankenversi-
cherung keine kostendeckenden Tarife
bezahlt wurden. Man wollte beweisen,
dass ein Missverhältnis zwischen der
notwendigen und erbrachten Leis-
tungsmenge und deren Finanzierung
besteht.
Gleichschaltung aller Ärzte
Damit war die Idee des EBM 2000 plus
geboren. Mit großem Aufwand wurden
die Leistungen kalkuliert, indem man
eine Differenzierung in ärztliche und
technische Leistungsanteile vornahm.
Problematisch war von Anfang an bei
der Kalkulation der ärztlichen Leistung
die Gleichschaltung aller Ärzte und
Arztgruppen über einen einheitlichen
kalkulatorischen Arztlohn. Man ging
davon aus, dass alle Ärzte in ihrer ärzt-
lichen Tätigkeit tatsächlich gleich sind.
An dieser fragwürdigen Vorgabe hat
sich bis zum heutigen Tage nichts
geändert. Dieses Thema wird aber
nicht diskutiert. Es ist ein klassisches
Tabu.
Die politische Zielsetzung des EBM
2000 plus, die Unterfinanzierung der
ärztlichen Leistungen transparent zu
machen, ist aber bereits im Ansatz
gescheitert. Die Krankenkassen waren
nur bereit, diesem EBM zuzustimmen,
wenn alle auch noch so diskreten Hin-
weise auf die Kalkulationsgröße von
5,11 Cent aus dem Vertragswerk
gestrichen wurden. 2004 hat der
damalige Vorstand der Kassenärztli-
chen Bundesvereinigung mit einer
knappen Mehrheit dem Ansinnen der
Krankenkassen entsprochen und damit
einen groben strategischen Fehler
begangen: Die Unterfinanzierung
wurde durch die Festsetzung eines fes-
ten Punktwertes von 3,5 Cent festge-
schrieben. Die Begrenzung der Leis-
tungsmenge beim einzelnen Vertrags-
arzt erfolgte damit nicht mehr über
den Punktwert, sondern über die von
den Regelleistungsvolumina gesteuerte
Leistungsmenge. Das Morbiditätsrisiko
blieb unverändert beim Vertragsarzt.
Durch die konsequente Umsetzung der
Regelleistungsvolumina sind die Vor-
gaben des EBM beim Vertragsarzt bis
zur Unkenntlichkeit verstümmelt wor-
den.
EBM 2000plus endgültig gescheitert
Diese Entwicklung kann sogar noch
getoppt werden. Zur Zeit denkt der
KBV-Vorstand beim EBM 2000 plus
über eine sogenannte „Währungsre-
form“ nach. Es wird der Auszahlungs-
punktwert von etwa 3,5 Cent auf 5,11
Cent angehoben. Dies führt aber nicht
zu einer entsprechenden Höherbewer-
tung der EBM-Leistungen, denn gleich-
zeitig wird die Zeitvorgabe für die ein-
zelne Leistung verkürzt, sodass man
eine sogenannte kostenneutrale
Angleichung vornimmt. Wie diese
Rechenkünste von EBM und Honorar-
verteilungsmaßstab dem unerfahrenen
einzelnen Vertragsarzt klargemacht
werden können, bleibt das Geheimnis
des KBV-Vorstandes. Die Unterfinan-
zierung des Systems wird damit
kaschiert. Gleichzeitig verlässt man
endgültig das Prinzip der betriebswirt-
schaftlichen Kalkulation. Damit ist der
EBM 2000 plus in seiner ursprüngli-
chen politischen Intention gescheitert.
Erneuter Rückfall in die Neidkultur
Der EBM bleibt ein nicht endend wol-
lendes Desaster. Dies hat auch der
KBV-Vorstand und die Vertreterver-
sammlung bemerkt und beschlossen,
dass es in Zukunft nur noch neue Leis-
tungen geben kann, wenn auch fri-
sches Geld von Seiten der Krankenkas-
sen bezahlt wird. Die seitherige Praxis,
neue Leistungen auch durch eine inter-
ne Umverteilung des Honorars zu
finanzieren, sollte in Zukunft vermie-
den werden.
Die Körperschaft hat damit die Grund-
satzfrage gestellt. Man schien nicht
mehr bereit, unter einer gedeckelten
Vergütung das Morbiditätsrisiko des
Systems zu tragen. Dass damit auch
der zurzeit definierte Sicherstellungs-
auftrag der Kassenärztlichen Vereini-
gung in Frage gestellt wird, nahm man
wohl bewusst in Kauf. Die Vertreter-
versammlung am 07.12.2012 ist wie-
der rückfällig geworden und betreibt
als Körperschaft Kassenärztliche Verei-
nigung weiter das Geschäft der Kosten-
träger und des Systems. Man hat
Umverteilungen innerhalb der Fach-
arztgruppe beschlossen und dies durch
elegante Finanzierungstricks kaschiert.
Besonders unangenehm ist aber die
Diskussionskultur in der Vertreterver-
sammlung aufgefallen. Hier ist man
voll rückfällig geworden. Die einzelnen
Vertreter waren in ihren Beiträgen
mehr von der Finanzierung ihrer eige-
nen Fachgruppe gesteuert und führten
eine ausgesprochen neidbesetzte Dis-
kussion. Der Einheit der Vertragsärzte-
schaft hat man damit einen Bären-
dienst erwiesen.
Es ist zu befürchten, dass die KBV
wieder zur Tagesordnung übergeht
und demnächst ein weiteres Kapitel in
dem Desaster EBM von der Vertreter-
versammlung beschlossen wird. Es
dürfte sich damit für den einzelnen
Vertragsarzt in absehbarer Zeit nichts
ändern.
HFS
Nr. 2 • Februar 2013
6
Berufspolitik
Ein Desaster ohne Ende
Der Erweiterte Bewertungsmaßstab (EBM)
(Fortsetzung von Seite 1)
Foto: Fotolia
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