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Medizin
Nr. 4 • April 2014
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Kasuistik
Anamnese
Der 49-jährige Patient (173 cm,
77 kg) wurde aufgenommen zur drit-
ten Applikation von 30 mg Bleomy-
cin/100 mg Prednisolon im Rahmen
des ersten Zyklus PEB (Cisplatin [P],
Etoposid [E] und Bleomycin [B]) zur
Therapie eines malignen Keimzelltu-
mors mit fokaler Infiltration des Rete
testis im klinischen Stadium 1b (pT2
cN0 cM0 L1 V1 S0). Er berichtete, dass
sich etwa 4 Tage nach der zweiten
Bleomycingabe am Rumpf juckende
streifige Hautrötungen mit diskreten
Bläschen entwickelt hätten. Diese
seien nach indirekter Sonnenein-
strahlung sowie „starkem Schwitzen
unter dem Pullover“ aufgetreten. Die
Chemotherapie sei ansonsten bislang
gut vertragen worden.
In der Vorgeschichte waren außer
zwei Fuß-Operationen keine Neben-
erkrankungen und keine Allergien
bekannt.
Körperlicher Untersuchungsbefund
Der Patient präsentierte sich mit urti-
kariell anmutenden Erythemen und
lineär angeordneten Papeln an Schul-
tern, Oberarmen, Flanken, Rücken,
weniger an Bauch und Brust. Auf der
rechten Schulter konfluierten die
Streifen zu einem großen schuppen-
den Erythem (Abb. 1). Es waren keine
Exkoriationen erkennbar.
Kardiopulmonal gab es keine patholo-
gischen Befunde. Sämtliche weitere
körperliche oder klinisch-chemische
Untersuchungen waren ebenfalls
ohne pathologischen Befund. Durch
den konsiliarisch hinzugezogenen
Dermatologen wurde die Diagnose
einer Flagellanten-Dermatitis – als
typische Nebenwirkung einer Bleo-
mycin-Chemotherapie – gestellt.
Therapie und Verlauf
Die Lokaltherapie erfolgte mit Fusi-
dinsäure und Betamethason-Creme
für insgesamt 7 Tage. Systemisch
erhielt der Patient Cetirizin-Tabletten
in einer Dosierung von 3 × 10 mg p.o.
über 10 Tage. Die Chemotherapie
wurde direkt auf das PEI-Schema (Cis-
platin [P], Etoposid [E] und Ifosfamid
[I]) umgestellt, wovon ein Zyklus
durchgeführt wurde. Im anschließen-
den Staging gab es keinen Anhalt für
eine Metastasierung, daher wird eine
weitere Chemotherapie aktuell nicht
als notwendig erachtet. An der Haut
finden sich noch geringe Hyperpig-
mentierungen in den betroffenen
Arealen.
Diskussion
Die Flagellanten-Dermatitis ist eine
seltene, aber sehr charakteristische
Hauterkrankung. Sie zeichnet sich
durch eine parallele Anordnung einer
juckenden, streifenförmigen, erythe-
mato-papulösen Dermatitis aus.
Schleimhäute können mitbeteiligt
sein und gewöhnlich verbleibt nach
spontaner Abheilung eine Hyperpig-
mentierung.
Namensgeber dieser Hautverände-
rung ist die christliche Flagellanten-
oder Geißler-Bewegung, eine Laien-
bewegung im Mittelalter, zu deren
religiösen Praktiken die öffentliche
Selbstgeißelung zur Buße gehörte
(flagellum, lat. Geißel, Peitsche). Die
streifigen Hautveränderungen erin-
nern an die Striemen, die bei den Fla-
gellanten beobachtet wurden. Erst-
mals wurde diese distinkte Hauter-
scheinung in Verbindung mit einer
Bleomycin-Chemotherapie beschrie-
ben [13]. Auch Assoziationen mit
anderen Zytostatika wie Bendamustin
und Docetaxel wurden beobachtet
[10, 15].
Die Histologie ist uneinheitlich, meist
sieht man Hyperkeratose, fokale Para-
keratose, unregelmäßige Akanthose
und Spongiose innerhalb der Epider-
mis. Ein Band mit basalem, epiderma-
lem Melanin ist charakteristisch,
daneben sind dermale Ödeme und
perivaskuläre Lymphozyten zu sehen.
Gelegentlich erkennt man nekrotische
Keratinozyten oder eine vakuoläre
Degeneration an der dermal-epider-
malen Grenze. Selten wurde eine
fokale Akantholyse oder Leukozyto-
clasie beobachtet [5].
Verblüffend ist die klinische Ähnlich-
keit dieser Dermatitis mit den Haut-
effloreszenzen, die nach dem Verzehr
ungenügend gekochter Shiitake-Pilze
auftreten. Seit der Erstbeschreibung
durch Nakamura im Jahre 1977 wur-
den vor allem in Japan viele Fälle
dokumentiert. Die typischen Efflores-
zenzen entwickelten sich bei über 40
% der Patienten auf sonnenexponier-
ten Hautarealen [7, 14]. Auch aus
Europa und Amerika existieren inzwi-
schen erste Fallberichte [11, 12]. Die
Shiitake-Dermatitis heilt üblicherwei-
se innerhalb von 2 Wochen folgenlos
ab.
Differenzialdiagnostisch ist zu erwäh-
nen, dass ähnliche Effloreszenzen in
Verbindung mit dem Still-Syndrom
oder mit einer Dermatomyositis auf-
treten können. Morphologisch impo-
niert bei letzterer ein entzündlicheres
und persistierenderes Erythem [2,
17].
Während die Hauterscheinungen
nach Shiitake-Pilz-Verzehr innerhalb
kurzer Zeit auftreten, taucht eine Fla-
gellanten-Dermatitis nach Bleomycin
mit Verzögerung auf. Der Beginn liegt
zwischen einem Tag und mehreren
Monaten nach Exposition [3].
Bleomycin, ein Antibiotikum aus
Streptomyces verticillus, bewirkt als
Endonuklease Brüche der DNA-Strän-
ge. Hydrolasen, aber auch verschiede-
ne niedrigmolekulare Eiweißfraktio-
nen inaktivieren Bleomycin. Die
selektive Organtoxizität von Bleomy-
cin korreliert möglicherweise mit
dem verminderten Gehalt an Bleomy-
cin-Hydrolase in entsprechenden
Geweben wie Haut und Lunge [3].
Eine Theorie postuliert, dass einer
Akkumulation von Bleomycin in der
Haut – verursacht z.B. durch ein Trau-
ma (Kratzen) mit lokaler Vasodilatati-
on – eine fixe Arzneimittel-Dermati-
tis nachfolgt. Bei der Shiitake-Derma-
titis hingegen vermutet man Lentinan
als auslösendes Agens, ein thermola-
biles Polysaccharid [6, 16]. Lentinan
soll die Sekretion von Interleukin-1
triggern und damit zu einer Vasodila-
tation führen [8]. Eine retrospektive
Studie in Japan hat gezeigt, dass sich
die typischen erythematösen Haut-
veränderungen bei 44 von 94 Patien-
ten (47%) nach Sonnenexposition ent-
wickelten. Daher wird diskutiert, ob
die Shiitake-Dermatitis nur nach
ultravioletter Strahlenbelastung vor-
kommt [7].
In den meisten Fällen ist die Flagel-
lanten-Dermatitis spontan reversibel,
primär wird das Symptom Juckreiz
behandelt. Antihistaminika oder topi-
sche Steroide können hilfreich sein.
Systemische Steroide wie Prednisolon
oder Dexamethason scheinen den
Ausbruch der Dermatitis zu verzögern
oder auch ihre Abheilung zu
beschleunigen. Wärme in den betrof-
fenen Hautarealen scheint ein Wie-
derauftreten der Flagellanten-Derma-
titis zu fördern (heat-induced recall),
weshalb eine Kühlung vor der Chemo-
therapie-Applikation von Nutzen sein
kann [9].
Die Fortführung der Bleomycingabe
sollte in Abhängigkeit von der klini-
schen Notwendigkeit entschieden
werden. Üblicherweise wird Bleomy-
cin durch Ifosfamid ersetzt, es existie-
ren aber auch Fallberichte, bei denen
das PEB-Schema fortgeführt wurde
[17].
Konsequenz für Klinik und Praxis
▶ Die Flagellanten-Dermatitis ist eine
selbstlimitierende, juckende, cha-
rakteristisch aussehende Hautver-
änderung mit streifenförmigen,
urtikariell anmutenden Erythemen,
Papeln und Plaques nach Bleomy-
cintherapie.
▶ Es besteht keine Assoziation zwi-
schen Dosis und Inzidenz bzw.
Schwere der Hautveränderungen.
▶ Ähnliche Effloreszenzen können
nach Bendamustin und Docetaxel,
dem Genuss ungenügend gekochter
Shiitake-Pilze und bei Dermato-
myositis sowie dem Still-Syndrom
auftreten.
▶ Die Therapie besteht primär aus
systemischen Antihistaminika. Die
lokale und systemische Applikation
von Steroiden verkürzt möglicher-
weise den Krankheitsverlauf. Falls
keine Kontraindikationen bestehen,
sollte man Bleomycin absetzen und
z.B. durch Ifosfamid ersetzen.
Autorenerklärung: Die Autoren erklä-
ren, dass sie keine finanziellen Ver-
bindungen mit einer Firma haben,
deren Produkt in dem Artikel eine
wichtige Rolle spielt (oder mit einer
Firma, die ein Konkurrenzprodukt
vertreibt).
Literatur
1 Abess A, Keel DM, Graham BS. Flagellate
hyperpigmentation following intralesio-
nal bleomycin treatment of verruca
plantaris. Arch Dermatol 2003; 139:
337-339
2 Bachmeyer C, Blum L, Danne O et al. Iso-
lated flagellate eruption in dermatomyo-
sitis. Dermatology 1998; 197: 92-93
Bleomycin wurde 1962 vom japanischen Wissenschaftler Hamao Umezawa entdeckt [3]. Heutzutage wird
es häufig in Kombination mit anderen antineoplastisch wirksamen Arzneimitteln eingesetzt zur kurati-
ven Therapie bei Hodentumoren (Seminome, Nicht-Seminome), Hodgkin-Lymphomen, Non-Hodgkin-
Lymphomen und zur palliativen intrapleuralen Therapie maligner Pleuraergüsse. Weitere mögliche Indi-
kationen sind die intraläsionale Sklerotherapie von Hämangiomen oder die Behandlung von Verrucae
vulgares [1]. Die bedeutendste Nebenwirkung von Bleomycin ist eine subakut oder chronisch verlaufende
Pneumonie. Die häufigsten Nebenwirkungen der Substanz betreffen allerdings Haut und Schleimhäute
und werden bei etwa der Hälfte aller Patienten beobachtet. Charakteristisch ist die hier vorgestellte soge-
nannte Flagellanten-Dermatitis, eine juckende erythemato-papulöse Dermatitis, die sich durch eine strei-
fige parallele Anordnung auszeichnet und mit einer Inzidenz von bis zu 66% nach Bleomycingabe auftritt
[3, 4, 17].
Kasuistik
Flagellanten-Dermatitis nach
Bleomycingabe bei einem Patienten
mit malignem Keimzelltumor
Abb.1
49-jähriger Patient mit hochroten, scharf begrenzten, erhabenen, streifigen, teils parallel, teils gekreuzt verlaufenden Hautveränderungen an Schultern, Oberarmen, Flanken,
Rücken, weniger Bauch und Brust. Auf der rechten Schulter konfluieren die Streifen zu einem großen schuppenden Erythem.
1,2,3,4,5,6,7,8,9 11,12,13,14,15,16,17,18,19,20,...28
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