Medizin
Nr. 4 • April 2014
13
Prinzipiell werden drei Chelatoren
eingesetzt:
▶ Deferoxamin s.c.
▶ Deferipron p.o.
▶ Deferasirox p.o.
Die Kombination der Chelatoren ist
möglich. Dabei vereinfacht der neue,
orale Chelatbildner Deferasirox (Ziel-
dosis 30 mg/kg) die Eisenausschleu-
sung wesentlich. Die aufwendige und
schmerzhafte nächtliche Pumpenan-
wendung von Deferoxamin entfällt.
Nebenwirkungen von Deferasirox sind
Bauchschmerzen, Durchfall, Kreati-
nin-Erhöhung, in seltenen Fällen auch
Lebertoxizität, Übelkeit, Erbrechen
und Ausschlag. Hör- und Sehstörun-
gen werden seltener als unter Defer-
oxamin beobachtet.
Langzeitbetreung und -verlauf
Wichtig für den Hausarzt/Internisten
mit spezieller hämatologischer Erfah-
rung: Patienten mit Thalassaemia
intermedia können von allen Ärzten
in der Klinik oder freien Praxis
betreut werden, die über ein profun-
des Wissen in der optimalen Ver-
sorgung dieser Spezialpatienten ver-
fügen. Im Vergleich mit Thalassaemia
major können bei den nichtransfu-
sionsbedürftigen Patienten mit Tha-
lassaemia intermedia folgende Komp-
likationen sogar häufiger sein [20]:
▶ Knochendeformitäten
▶ extramedulläre Hämatopoese
▶ pulmonale Hypertonie
▶ langfristig Entwicklung einer Eisen-
überladung
Beratung und Pränataldiagnostik
Eltern und/oder erwachsene Patien-
ten, die Anlageträger der Thalass-
aemia minor sind oder einen Partner
mit dieser Anlage haben, sollten bei
Kinderwunsch auf die notwendige
Partneruntersuchung und die Mög-
lichkeit der pränatalen Diagnostik
hingewiesen werden.
kurzgefasst
Fast alle Thalassämien (α/β)
sind mikrozytär. Nach klinischem
Bild unterschieden werden α/β-Tha-
lassaemia minor, β-Thalassaemia
major und α/β-Thalassaemia interme-
dia. Chronische Eisenüberladung kann
bei schwerer β-Thalassaemia interme-
dia zu Organschäden führen.
Hb-Tetraden-Bildung führt bei α-Tha-
lassaemia zu erhöhter peripherer
Hämolyse. Bei α/β-Thalassaemia
minor sollte immer die Differenzial-
diagnose eines Eisenmangels beachtet
werden und die Therapie entsprech-
end angepasst werden. Die wichtig-
sten Krankheits-zeichen der β-Tha-
lassaemia intermedia sind die Eisen-
überladung und die Splenomegalie
mit ihren Komplikationen. Bei einigen
Patienten können sich extramedulläre
blutbildende Tumore bilden. Erwach-
sene Patienten mit der Intermedia
können bei zuneh-mender Milzver-
grösserung oder bei pulmonaler
Hypertension von längerfristigen
regelmässigen Transfusionen profi-
tieren. Eine Splenektomie sollte
wegen des Thromboserisikos vermie-
den werden. In der Schwangerschaft
können vorübergehend Transfusionen
erforderlich werden.
Genetik und Definition der
α-Thalassämien
Bei den
α-Thalassämien
bilden die
überschüssigen β-Ketten Tetraden
(β4), die man HbH nennt. In der
Fetalzeit bilden die überschüssigen
γ-Ketten γ4-Tetraden, das sog. Hb
Barts. HbH und Hb Barts führen zu
einer gesteigerten peripheren Hämo-
lyse.
Die verschiedenen genetischen und
klinischen Formen und ihre Nomen-
klatur sind in Tab. 3 zusammenge-
fasst.
Klinisch relevant ist die HbH-Krank-
heit, bei der drei α-Globin-Loci
deletiert sind. Sie geht mit einer
mäßigen, nicht transfusionspflichti-
gen Anämie und meist mit einer
mäßigen Splenomegalie einher.
Genetisch relevant sind Träger der
heterozygoten α 0 -Thalassämie
(2 Deletionen auf einem Allel), die es
überwiegend in Süd-Ost-Asien, aber
auch in der Türkei gibt. Das klinische
Korrelat zur homozygoten α 0 -Tha-
lassämie (kein α-Gen vorhanden) ist
der Hydrops fetalis, ein bereits intra-
uterin nicht lebensfähiger Fötus. Eine
Schwangerschaft mit einem Hydrops
fetalis gefährdet nicht nur den Fötus,
der zusätzlich zur schweren Anämie
eine Reihe von Fehlbildungen haben
kann, sondern auch die Mutter durch
schwere Eklampsien und Blutungsnei-
gung.
In Zentralafrika kommt bei ca. 20%
der Bevölkerung fast ausschließlich
die klinisch und genetisch irrelevante
α+-Thalassämie vor.
kurzgefasst
Kann die Mikrozytose bei
einem Individuum aus Süd-Ost-Asien,
der Türkei oder dem Mittleren Osten
weder durch Eisenmangel noch durch
eine β-Thalassaemia minor (da nor-
male Hb-Analyse) erklärt werden,
muss molekulargenetisch nach einer
heterozygoten α 0 -Thalassämie
gesucht und, wenn vorhanden, der
Patient genetisch beraten werden
(pränatale Diagnostik wenn beide
Partner α 0 -Träger sind).
Konsequenz für Klinik und Praxis
▶ Die Sichelzellkrankheit und die
Thalassämien sind ungewöhnlich
komplexe Erkrankungen. Da der
einzelne Arzt wenige Patienten
sieht und es sich meist um multi-
morbide Patienten handelt, ist es in
Deutschland unerlässlich, sich an
aktuellen Therapieempfehlungen
[6, 7, 13] zu orientieren und sich
bei speziellen Fragen an erfahrene
Kollegen zu wenden.
▶ Neben der Betreuung der Patienten
ist es auch notwendig, asymptoma-
tische Träger der Sichelzellkrank-
heiten sowie Anlageträger der
Minor-Thalassämien per Hb-Analy-
se zu ermitteln, um sie über ihr
genetisches Risiko aufzuklären.
▶ In der Praxis ist die Abgrenzung der
nicht so seltenen Thalassämie-Anla-
ge von der Eisenmangelanämie
wichtig, um eine schädliche Eisen-
therapie zu vermeiden.
▶ Eine verbesserte Aufklärung von
hämatologischen Internisten, aber
auch von Gynäkologen (Screening
im Rahmen der Schwangerschafts-
vorsorge) ist dringend erforderlich,
um Familien mit dem Risiko eines
betroffenen Kindes eine pränatale
Diagnostik anbieten zu können.
▶ Entsprechend unseren europäi-
schen Nachbarländern sollten auch
in Deutschland Hämoglobinopa-
thie-Expertenzentren eingerichtet
werden, in denen sich interdiszipli-
näre Teams der Patienten anneh-
men. Die Betreuung von Anämien
bei Menschen mit Migrationshin-
tergrund erfordert von den an der
Versorgung beteiligten Haus- und
Fachärzten neben dem medizini-
schen Wissen auch Aufgeschlossen-
heit in Bezug auf die fremde Kultur.
Hierzu gehört auch, dass auf Pro-
bleme mit Ausbildung, Beruf, Part-
nerschaft eingegangen werden
kann.
Online-Informationen zum Mana-
gement von Sichelzellpatienten
werden angeboten unter
/
haemoglobin (Mailkontakt via
Sichelzelle@med.uni-duesseldorf)
oder
Sichelzellerkrankung.104009.0.html.
Glossar
ATS: akutes Thoraxsyndrom
HbS: Sichelzell-Hämoglobin
RDW: Erythrozytenverteilungsbreite
(red cell distribution width), ein Maß
der Anisozytose
Autorenerklärung: Die Autoren er-
klären, dass sie keine finanzielle
Verbindung mit einer Firma haben,
deren Produkt in diesem Beitrag eine
Rolle spielt (oder mit einer Firma, die
ein Konkurrenzprodukt vertreibt).
Literatur
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S. Eber 1,* , R. Dickerhoff 2,*
1 Schwerpunktpraxis für Pädiatrische
Hämatologie-Onkologie, Gerin-
nungsstörungen und Kinderklinik der Tech-
nischen Universität, München-Schwabing
2 Klinik für Kinder-Onkologie, -Hämatologie
und Klinische Immunologie, Universität
Düsseldorf
* beide Autoren haben im gleichen Umfang
beigetragen
Korrespondenz
Prof. Dr. Stefan Eber
Schwerpunktpraxis für Pädiatrische
Hämatologie-Onkologie,
Gerinnungsstörungen, Kinderklinik
der Technischen Universität
Waldfriedhofstr. 73
81377 München
Telefon: 089-7140975
Fax: 089-74160384
,
Der Beitrag ist erstmals erschienen in der
Deutschen Medizinischen Wochenschrift
(Dtsch Med Wochenschr 2014; 139: 434-
440). Alle Rechte vorbehalten.
β-Thalassaemia
major
keine
Therapie
allogene
Stammzell-
transplantation
langfristiges
Transfusions-
programm
langfristiges
Transfusions-
programm
Beobachtung
Chelattherapie
Chelattherapie
HLA-identer
Spender
kein HLA-identer
Spender oder
Kontraindikation
asymptomatisch
oder
oligosymptomatisch,
gutes Gedeihen
Hb<6 g/dl oder
Splenomegalie oder
Wachstumsstop oder
extramedulläre
Erythropoese
β-Thalassaemia
intermedia
β-Thalassaemia
minor
Abb.4
Therapie-Algorithmus bei β-Thalassämie [5].