Medizin
BDI aktuell
April 2016
15
Wir berichten über den Fall eines 71-
jährigen Patienten, der sich in unserer
Klinik mit seit 3 Tagen bestehenden
epigastrischen
und
thorakalen
Schmerzen ohne Dyspnoe vorstellte.
Schwindel und Synkopen wurden ver-
neint. Anamnestisch hätte er im Jahr
1996 einen Myokardinfarkt erlitten,
bei dem er ein ähnliches Beschwerde-
bild verspürt hätte. Damals war keine
Herzkatheteruntersuchung durchge-
führt worden.
Weiterhin bestand bei dem Patien-
ten ein deutlich ausgeprägtes kardio-
vaskuläres Risikoprofil mit arterieller
Hypertonie,
Hyperlipoproteinämie,
tablettenpflichtigem Diabetes mellitus
Typ 2 und Adipositas.
Aufnahmebefunde
Körperlicher Untersuchungsbefund:
Bei der klinischen Untersuchung
sahen wir einen 71-jährigen Patienten
(Größe 172 cm, Körpergewicht 102,8
kg) in einem altersentsprechendem
Allgemein- und überernährtem Er-
nährungszustand (BMI 34,5 kg/m²).
Die Kopf- und Halsuntersuchung
zeigten keine Auffälligkeiten. Die Lun-
ge war beidseits gut atemverschieblich
bei vesikulärem Atemgeräusch.
Die Herztöne waren rein und
rhythmisch ohne pathologische Ne-
bengeräusche. Die abdominelle Unter-
suchung zeigte eine weiche Bauch-
decke ohne Abwehrspannung oder Re-
sistenzen. Milz und Leber waren nicht
vergrößert tastbar. Die Wirbelsäule
war nicht klopfschmerzhaft. Periphere
Pulse waren beidseits gut tastbar. Eine
Einflussstauung sowie periphere Öde-
me konnten nicht festgestellt werden.
Die grob orientierende neurologische
Untersuchung fiel unauffällig aus.
Laborbefunde: Bei Aufnahme ließen
sich pathologische Werte für Glukose
(7,26 mmol/l; Normwert 3,88–5,82
mmol/l) und glomeruläre Filtrations-
rate (73,2 ml/min; Normwert 90–140
ml/min/1,73 m²) feststellen. Die übri-
gen Laborparameter für Blutbild, Ge-
rinnung, Elektrolyte, Nierenretenti-
ons- und Leberfunktionsparameter,
Herzenzyme und TSH basal befanden
sich im Normbereich.
Aufnahme-EKG: Das Aufnahme-
EKG zeigte einen Sinusrhythmus,
Herzfrequenz 57/min, S
I
S
II
S
III
-Typ
mit fehlender R-Progression über der
Vorderwand und S-Persistenz bis V6
(Abb. 1a, b).
Klinischer Verlauf: Aufgrund der
klinischen Symptomatik und der
EKG-Veränderungen wurde eine
Koronarangiographie durchgeführt.
Herzkatheterbefund: Die Aorta war
ohne pathologischen Befund. Ebenso
wiesen die Aortenklappe und Mitral-
klappe keinen pathologischen Befund
auf. Lävokardiographisch zeigten sich
normale Volumina, Aspekt einer
Linksherzhypertrophie, keine Wandbe-
wegungsstörungen (linksventrikuläre
Ejektionsfraktion (LV-EF) 59%. Die
linke Koronararterie ließ sich nur mit
einem Amplatz-links-Katheter II (AL
2; Hersteller Medtronic) darstellen
und wies eine ausgeprägte Koronar-
sklerose mit allenfalls 20- bis 30%iger
Lumenreduktion des distalen Haupt-
stamms auf. Im R. interventricularis
anterior (RIVA) zeigte sich eine Koro-
narsklerose mit 30%iger Lumenreduk-
tion im R.-diagonalis-I-Abgang. Der
R. circumflexus (RCX) wies ebenfalls
eine Koronarsklerose und 30%ige Lu-
menreduktion im proximalen Ab-
schnitt auf. Weiterhin zeigten sich Kol-
lateralen der linken Koronararterie zur
peripheren rechten Koronararterie
(RCA), die sich proximal verschlossen
darstellte.
EKG-Kontrolle mit vertauschten
Armelektroden: Nach Vertauschen der
Armelektroden zeigten sich ein Sinus-
rhythmus mit einer Herzfrequenz von
53/min, ein überdrehter Linkslagetyp
und ein linksanteriorer Hemiblock,
darüber hinaus regelrechte Über-
leitungszeiten und ein R/S-Umschlag
bei V4–V5 (Abb. 2a, b).
Klinischer Verlauf: Aufgrund der
invasiv und nicht-invasiv erhobenen
Befunde waren die Beschwerden am
ehesten auf eine hypertensive Herz-
erkrankung mit noch unzureichend
eingestelltem arteriellem Hypertonus
zurückzuführen. Es erfolgte eine Stei-
gerung der antihypertensiven Thera-
pie.
Diskussion
Der Situs inversus (lat.: umgekehrte
Lage) beschreibt die seltene kongeni-
tale, spiegelbildliche Anlage menschli-
cher Organe im Vergleich zu der sonst
üblichen Organanordnung. Der Be-
griff des Situs inversus cordis um-
schreibt speziell die Anlage des für
gewöhnlich gesunden Herzens in der
rechten statt linken Thoraxhälfte und
wird synonym zu dem Begriff der
Dextrokardie verwendet. Hiervon gilt
es, die sogenannte Dextropositio cor-
dis (lat. nach rechts verlagertes Herz)
zu unterscheiden, bei der das Herz
durch Zug oder Druck infolge extra-
kardialer Erkrankungen sekundär nach
rechtsthorakal verlagert wird. Der Si-
tus inversus ist häufig ein Zufallsbe-
fund. Pektanginöse Beschwerden bei
Herzinfarkt werden von den Patienten
nicht selten rechtsthorakal mit Aus-
strahlung in die rechte obere Extremi-
tät angegeben.
Koronarangiographie bei Patienten
mit Situs inversus: Die Herzkatheter-
untersuchung von Patienten mit Situs
inversus wird in zahlreichen Fall-
berichten beschrieben, systematische
Untersuchungen gibt es aufgrund der
geringen Fallzahlen jedoch nicht (Inzi-
denz 1:10000). Ob daher die Koro-
narangiographie von Patienten mit
Situs inversus standardisiert mit dem
Judkins-links-4-Katheter (JL 4) bezie-
hungsweise dem Judkins-rechts-4-Kat-
heter (JR 4) durchgeführt werden
kann oder aber ob gehäuft – wie auch
in dem hier präsentierten Fall – ein
Wechsel des Untersuchungsmaterials
notwendig ist, bleibt daher unklar.
Zwar konnten Dhanjal (Cardiol J
2009; 16:168–171) und Saha (Heart
2004; 90:e20) sowohl die linke als
auch die rechte Koronararterie mit
einem Judkins-Katheter intubieren,
beschrieben jedoch beide die Notwen-
digkeit, den JR 4 hierbei – anders als
sonst üblich – entgegen dem Uhrzei-
gersinn zu drehen.
Aksoy und Kollegen (Tex Heart
Inst J 2012; 39:140–141) stellten zwar
die linke Koronararterie mit einem JL
4 dar, benötigten jedoch für die Dar-
stellung der RCA einen Multipurpo-
se-Katheter (MP), und auch bei den
transradialen Untersuchungen von
Sinha und Kollegen (J Clin Diagn Res
2015; 9:OD04–OD06) konnte zwar
die linke Koronararterie mit einem JL
4-Katheter dargestellt werden, für die
Darstellung der RCA wurde jedoch
ein Tiger-Katheter (Hersteller Teru-
mo) verwendet. Letztendlich bleibt die
Frage nach dem bei der Koronar-
angiographie zu verwendenden Kathe-
ter daher offen, allerdings sollten die
bestehenden Fallberichte dazu Anlass
geben, vor einer elektiven Untersu-
chung von Patienten mit Situs inversus
alternative Diagnostikkatheter vorzu-
halten.
Nichtinvasive Diagnostik bei Patien-
ten mit Situs inversus: Eine nicht be-
kannte Dextrokardie führt im klini-
schen Alltag häufig zu Missinterpreta-
tionen. So werden Elektrokardiogram-
me nicht selten zunächst als verpolt
verkannt. Auffällig sind vor allem ne-
gative P-Wellen, T-Wellen und QRS-
Komplexe mit tiefen S-Zacken in den
Ableitungen I und aVL. Ein weiteres
typisches Merkmal ist die fehlende R-
Progression über der Vorderwand bzw.
nach links lateral bei hoher R-Ampli-
tude in den Ableitungen V1, III und
aVR, wohingegen eine Zunahme der
R-Amplitude über die rechtsthoraka-
len Ableitungen zu verzeichnen ist.
Grundsätzlich ist mit normalen Über-
leitungszeiten und Zeitintervallen zu
rechnen (P, PQ, QRS, QT).
Bei der Echokardiographie ist zu
beachten, dass prinzipiell die gleichen
Anlotebenen bei spiegelbildlicher Dar-
stellung wie von linksthorakal gelten.
Oftmals liegt ein strukturell und funk-
tionell normales Herz vor.
Koinzidenzielle Besonderheiten: Bei
Vorliegen eines Situs inversus cordis
muss grundsätzlich auch an das Karta-
gener-Syndrom (primäre ziliäre Dys-
kinesie) gedacht werden. Kennzeich-
nend hierfür sind neben einem Situs
inversus, Bronchiektasien sowie eine
chronische Sinusitis bei Hypo- bzw.
Aplasie des Sinus frontalis (Kartage-
ner-Trias) (Austrian J Cardiol 2008;
15:38–39).
Dieser Beitrag von Scharbanu Amirie,
Dr. Martin Christ, Dr. Michael Brand und
Professor Hans-Joachim Trappe vom
Marienhospital Herne wurde bereits in
der Zeitschrift Der Kardiologe 2015;
9:442-446 veröffentlicht.
Der Situs inversus ist
häufig ein Zufallsbefund.
Eine nicht bekannte
Dextrokardie führt im
klinischen Alltag häufig
zu Missinterpretationen.
So werden Elektrokardio-
gramme nicht selten
zunächst als verpolt
verkannt.
Thoraxschmerzen bei einem Patienten
mit ungewöhnlichem EKG-Befund
Von Scharbanu Amirie et al
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Fazit für die Praxis
Bei zunächst schwieriger EKG-
Interpretation
eines Situs inver-
sus sind erweiterte rechtsprä-
kordiale Ableitungen (Zunahme
der R-Amplitude in V3R bis V6R
bei spiegelbildlicher Abnahme in
V1 bis V6) schnell diagnostisch
wegweisend und kosteneffizient.
Nach spiegelbildlicher Anord-
nung
der Brustwandableitungen
(V2, V1 und Vr3 bis Vr6) sowie
Vertauschung der oberen Extre-
mitätenableitungen (rotes und
gelbes Kabel) kann das EKG
korrekt interpretiert werden.
Die Koronarangiographie
selbst
sollte – wann immer möglich –
erst durchgeführt werden, wenn
alternative Diagnostikkatheter zur
Verfügung stehen.
I
II
III
AUR
AUL
AUF
V1
V2
V3
V4
V5
V6
50mm/s 10mm/mU ADS 50Hz 0.08 - 40Hz 6_F2 Automatik V5.1 12i (1)
50mm/s 10mm/mU ADS 50Hz 0.08 - 40Hz 6_F2 Automatik V5.1 12i (1)
a
b
Abbildung 2: EKG-Kontrolle nach Tausch der Armelektroden.
a Extremitätenableitungen b Brustwandableitungen.
© SPRINGER VERLAG GMBH
I
II
III
AUR
AUL
AUF
V1
V2
V3
V4
V5
V6
50mm/s 10mm/mU ADS 50Hz 0.08 - 40Hz 6_F2 R Automatik V5.21 12i (1)
50mm/s 10mm/mU ADS 50Hz 0.08 - 40Hz 6_F2 R Automatik V5.21 12i (1)
a
b
Abbildung 1: Das Aufnahme-EKG zeigte einen Sinusrhythmus, HF von 57 /min,
S
I
,S
II
,S
III
-Typ, eine fehlende R-Progression über der Vorderwand bei S-Persistenz bis V6.
a
Extremitätenableitungen,
b
Brustwandableitungen.
© SPRINGER VERLAG GMBH