BDl: Herr Gaß, Sie haben kürzlich einen Bürokratie-Lockdown gefordert. Wie kam es zu dieser Forderung?
Dr. Gerald Gaß: Für diese Forderung gibt es natürlich verschiedene Geburtshelfer. Zum einen ist uns der Bürokratiewahnsinn schon seit vielen Jahren ein Dorn im Auge. Drei bis vier Stunden pro Tag müssen Ärztinnen und Ärzte, aber auch Pflegefachkräfte mit Dokumentation verbringen. Zeit, die schon in normalen Zeiten für die Versorgung der Patientinnen und Patienten fehlt. Und in der Pandemie ist jede Minute, die wir unnötigerweise verlieren und nicht in die Patientenbetreuung stecken können, noch dramatischer. Als 2020 viele Dokumentationsvorgaben ausgesetzt waren, hat dies die Versorgung nicht verschlechtert.
Unter Omikron diskutieren wir nun darüber, ob Krankenhaus-Beschäftigte doch infiziert und vielleicht sogar mit Symptomen arbeiten sollen, um Personalausfälle ausgleichen zu können, und andererseits sollen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dann für stundenlange Bürokratie-Tätigkeiten eingesetzt werden. Dass unter solchen Bedingungen der Medizinische Dienst Grenzverweildauern prüft und die Beschäftigten zusätzlich belastet, kann nicht sein.
Der GKV-Spitzenverband hat die Ansicht vertreten, ein Bürokratie-Lockdown würde eine Steuerung der Krankenhäuser in der aktuellen Notlage unmöglich machen. Stimmen Sie dem zu?
Das ist ein untauglicher und leicht durchschaubarer Versuch, durch Überspitzung eine berechtigte Forderung zu diskreditieren. Der GKV-Spitzenverband spricht von Blindflug und Intransparenz, obwohl er sehr genau weiß, dass dies nicht unser Ziel ist. Was medizinisch und pflegerisch notwendig ist, soll und muss auch weiterhin dokumentiert werden. Wenn wir aber darüber diskutieren, Personal aus der Quarantäne zu holen, dann sollte dieses wenigstens für die Versorgung der Patientinnen und Patienten eingesetzt werden, als dem medizinischen Dienst Rede und Antwort zu stehen, ob eine Grenzverweildauer unterschritten wurde.
Glauben Sie, ein Bürokratie-Lockdown hätte einen reinigenden Effekt, der die Pandemie überdauern würde?
Wenn ich die Äußerungen des GKV-Spitzenverbands höre, dann muss man das bezweifeln. Misstrauenskultur und Kontrollwut der Kostenträger sind so immens, dass Entbürokratisierung nicht in ihrem Sinn ist. Trotzdem glaube ich, dass die Pandemie einige langfristige Effekte in der Gesundheitsverwaltung haben wird. Die vergangenen zwei Jahre haben mit Nachdruck verdeutlicht, dass wir bei der Digitalisierung endlich vorankommen müssen. Und wir müssen dafür sorgen, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gerne arbeiten und den Kern ihrer Arbeit wieder in den Vordergrund stellen können. Dazu zählt auch, in deren Entscheidungskompetenz zu vertrauen. Und der Kern ihrer Arbeit ist nicht stundenlanges Dokumentieren.
Grundsätzlich muss die Bürokratie auf ein für Versorgungsqualität und -sicherheit notwendiges Maß zurückgeführt werden. Ich bin überzeugt, dass diese Kehrtwende notwendig ist. Wer hoch qualifizierte Ärztinnen und Ärzten und Pflegefachkräften immer nur Misstrauen entgegenbringt, darf sich nicht wundern, wenn diese hochqualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich andere Betätigungsfelder suchen.
Erschienen in BDIaktuell 02/2022