StartseitePresseKontakt

| Interview

Wir brauchen wieder eine Orientierung an den Menschen

Wie soll das Krankenhaus der Zukunft aussehen? Das haben wir Dr. Jana Reichardt und Julian Gabrysch gefragt. Beide befinden sich zur Zeit in der Weiterbildung im Gebiet Nephrologie an der Charité Universitätsmedizin Berlin und haben den Streik am 5. Oktober 2022 maßgeblich mitorganisiert.

© Hamming, T. A.

© Hamming, T. A.

© Privat

© Privat

BDI aktuell: Anfang Oktober haben in Berlin über 1000 Ärztinnen und Ärzte der Charité für bessere Arbeitsbedingungen gestreikt. Eine Aktion, die Sie beide maßgeblich mit auf die Beine gestellt haben. Wie nehmen Sie Ihren Klinikalltag aktuell wahr?

Dr. Jana Reichardt: Ich habe den Eindruck, der Alltag ist überfrachtet mit bürokratischen Aufgaben, die eigentlich gar nichts mit meiner Tätigkeit als Ärztin zu tun haben. Bei vielen Aufgaben fehlt das jeweilige Personal (bspw. Pflegekräfte, Patientenmanager, administrative Kräfte), sodass diese dann auf uns zurückfallen. Wir Ärztinnen und Ärzte werden also vor die Wahl gestellt: Entweder Du machst es oder keiner. Uns vor die Gewissensfrage zu stellen, übernimm es oder deine Patienten werden schlechter versorgt, finde ich problematisch. Und natürlich rauben mir diese bürokratischen Zusatzaufgaben Zeit für meine ärztliche Tätigkeit, meine Patienten.

Julian Gabrysch: Ich habe zudem das Gefühl, der Trend geht immer mehr dazu hin, Fälle zu behandeln statt Patienten. Es wird eine DRG-gängige Diagnose gestellt und die wird möglichst schnell mit hohem Umsatz bearbeitet. Da gibt es keine Zeit, sich um die komplexeren Fälle, also die Patienten mit größerem Versorgungsbedarf und vielleicht mehreren Krankheitsbildern wirklich zu kümmern. Es wird versucht, die Patienten möglichst schnell zu entlassen. Klappt das nicht, ist der nächste Reflex die Patienten auf die anderen Abteilungen zu schicken ... soll doch jemand anders „Verluste“ damit machen. Eine Belohnung für gute Medizin und zufriedene Patienten gibt es in diesem System nicht. Das sieht man auch in der Zusammenarbeit mit den ambulanten Ärztinnen und Ärzten, auch dort wird möglichst wenig, möglichst schnell gemacht. Denn auch im ambulanten Bereich findet keine Würdigung von Qualität statt.

Mal emotional gefragt, wie fühlen Sie sich in Ihrem Alltag? Können Sie das noch 20 Jahre so weitermachen?

Gabrysch: Wenn ich nicht die Hoffnung hätte, dass sich etwas ändert, würde ich ganz klar den Berufswechsel angehen. Die Situation tut mir nicht gut und ich merke, dass es auch nicht das Richtige für meine Patientinnen und Patienten ist.

Reichardt: Die Resignation und der Frust unter den Kolleginnen und Kollegen sind riesig. Die Grenzen sind so eng und so starr vorgegeben, dass man das Gefühl hat, dass es nur an einem selbst ist, eine gute Medizin zu machen. Also bleibt man doch die Stunde länger, weil sonst keine Zeit mehr für das Patientengespräch ist, weil man sonst die soziale Situation des Patienten gar nicht erfassen, geschweige denn die Versorgung klären kann.

Ich kenne wirklich nicht wenige Kolleginnen und Kollegen, die sagen, spätestens in einem Jahr sind sie weg. Die brauchen noch die eine Rotation und sobald sie können, arbeiten sie ambulant oder machen was ganz anderes.

Mit dem Streik haben Sie beide ja ganz gezielt etwas unternommen. Was waren die Beweggründe für gerade diese Aktion? Und was die ersten Schritte, um das Ziel zu erreichen?

Reichardt: Begonnen hat alles vor einem knappen Jahr, als feststand, dass unser Tarifvertrag in Teilen oder auch gesamt kündbar ist. Damals gab es ein Treffen vom Marburger Bund (MB). Quintessenz für mich war: an vielen Ecken und Enden ist Verbesserungsbedarf. Ein Eindruck, der von vielen Kolleginnen und Kollegen geteilt wird und wurde. Jetzt hatten wir aber die Möglichkeit, mitzugestalten, einen Angriffspunkt, wo wir uns einbringen können. Das sollten wir nicht unversucht lassen.

Anschließend haben wir relativ aufwändig über Assistentensprecher der verschiedenen Abteilungen in der Charité Aufrufe gestartet und sortiert nach Arbeitsgruppen ermittelt, wo wir Problemfelder sehen. Wir haben uns über mehrere Wochen digital besprochen, was sich verbessern könnte und daraus dann Forderungen und Vorschläge erarbeitet. Dass sich das jetzt über Tarifverhandlungen hinaus zu einer Bewegung entwickelt hat, war ein Selbstläufer. Ein Zeichen dafür, wie sehr es brennt.

Gabrysch: Die Tarifverhandlungen waren ein kleines Erweckungserlebnis für uns. Es ist nicht so, dass wir vorher keine engagierten Kolleginnen und Kollegen gehabt hätten, da gibt es viele Menschen, die viel Energie in die Arbeit in Gremien gesteckt haben, die gefühlt aber gegen Wände gelaufen sind. Wenn größere Änderungen gefordert wurden, hieß es immer, was wollt ihr Jungen, ihr habt doch gar keine Ahnung, um hier mitzureden. Jetzt haben wir mit den Tarifverhandlungen ein handfestes Mittel, um Druck zu machen – nicht nur mit Worten. Ich habe das erste Mal das Gefühl, dass wir Ärztinnen und Ärzte mit patientennahen Aufgaben wirklich ernst genommen werden. Und selbst von den dienstälteren Kolleginnen und Kollegen bekommen wir viel positives Feedback und Engagement.

Mittlerweile ist klar, dass wir mehrgleisig fahren und unsere Forderungen nicht nur über einen Haustarifvertrag geregelt werden können, sondern systemische Reformen notwendig sind.

Wie viele Kolleginnen und Kollegen aus der Charité sind denn engagiert, um für Veränderung notfalls auch künftig zu streiken?

Gabrysch: Wir haben einen Kern von 20, 30 wirklich hochengagierten Kolleginnen und Kollegen. Von den rund 2700 Ärztinnen und Ärzten, die bei der Charité arbeiten, waren über 1000 beim Streik dabei. Auch an unseren Online-Vernetzungen, die aktuell vor allem über Telegram laufen, nehmen über 1000 junge Kolleginnen und Kollegen teil. Wir haben hier also einen breiten Support unter den Jungen, aber ebenso aus den Reihen der Oberärztinnen und -ärzte sowie der Ebene der Chefärztinnen und -ärzte. Nur letztere äußern das verständlicherweise etwas zurückhaltender.

Hilft Ihnen denn der MB?

Reichardt: Natürlich sind das Strukturen, die etabliert sind und ohne die das auch gar nicht möglich gewesen wäre. Vielleicht hat da ein bisschen der Mut gefehlt. Julian und ich haben durchaus Konfrontation erfahren. Der Schuh drückt aber wirklich. Wir wussten, wir können das jetzt nicht über Jahre erst in Gremienarbeit beackern, da muss schneller etwas passieren. Gefühlt wurden wir schon ein bisschen ausgebremst. Der Streik hat uns aber recht gegeben, einmal einen anderen Weg einzuschlagen. So einen Streik hat es an der Charité seit über zehn Jahren nicht mehr gegeben, laut Polizeiangaben waren 1200 Leute dabei. Das ist ein starkes Zeichen.

Gabrysch: Meine Erfahrung aus dem vergangenen Jahr ist: Es gibt viele berufspolitisch engagierte Ärztinnen und Ärzte. Trotzdem kommt das System immer mehr einem Kipppunkt entgegen. Das Engagement hat offensichtlich nicht gereicht. Und der erste Reflex uns gegenüber war: Kommt ihr jungen Wilden, wir zeigen euch erst mal wie unsere Strukturen funktionieren. Wir integrieren euch gerne, aber haltet euch an die Spielregeln. Da haben wir Nein gesagt: Wir haben nach einer 80-Stunden-Woche weder Zeit noch Kraft, wir fordern jetzt außerhalb der Spielregeln einen Wandel. Wir haben neben den Widerständen aber durchaus auch einiges an Verständnis und Toleranz erfahren.

Unsere Berufsverbände brauchen genauso einen Erneuerungsprozess wie unser Krankenhaussystem. Beides kann man konstruktiv zusammen angehen.

Blicken wir einmal aufs Krankenhaus im Jahr 2025. Wie müsste dieses aussehen, damit die Patientenversorgung wieder in den Mittelpunkt rückt und es attraktiv ist für Ärztinnen und Ärzte, ihre Passion Krankenversorgung an diesem Ort auszuüben? Was ist Ihre Vision für 2025?

Reichardt: Bei Vision 2025 muss ich schon schmunzeln, das ist sehr optimistisch. Was ich mir vorstelle: Ich möchte wieder bessere Medizin machen. Dafür brauche ich mehr Zeit für meine Patienten. Dafür ist einerseits mehr Personal nötig – auch im ärztlichen Bereich -, sowie eine Anerkennung, dass wir immer mehr Patienten behandeln, deren Krankheitsbilder komplexer sind. Diese Gesellschaft wird älter. Dem demografischen Wandel müssen wir Rechnung tragen, indem wir unsere medizinische Versorgung entsprechend anpassen. Wir brauchen eine zügige Digitalisierung, die auch in einem Uniklinikum wie der Charité Einzug hält. Wir faxen Anmeldungen für Untersuchungen, wir tragen Röntgenscheine auf ein Bord und hängen sie mit einem Magnet auf ... Ich komme mir jedes Mal lächerlich vor, wenn ich das mache.

Und wir brauchen mehr Partizipation und Transparenz. Generell haben wir extreme Hierarchien und Abhängigkeiten. Ganz viel passiert hinter verschlossenen Türen, das ist undurchschaubar und extrem frustrierend. Warum soll ich diese Belastung auf mich nehmen, wenn ich nicht mal weiß, wofür ich das tue?

Gabrysch: Wir haben zwei Kernprobleme in der Universitätsmedizin. Zum einen haben wir eine Qualitätsbewertung anhand von Case-Mix-Punkten und wirtschaftlicher Effizienz in der Krankenversorgung. Daran werden die klinischen Leistungen gemessen. Zum anderen an der akademischen Leistung anhand von Publikationen und anderen Metriken. Das sind Surrogatparameter. Wir betreiben hier, was wir in der Medizin Laborkosmetik nennen würden. Das funktioniert schon, ist aber nicht der Endpunkt, von dem, was wir machen. Wir müssten uns zurückbesinnen auf die eigentlichen Ziele der Versorgung: Das sind gut versorgte, zufriedene Patientinnen und Patienten, die sich gesund fühlen, und wissenschaftlicher Fortschritt. Gute Medizin sollte wieder gewürdigt werden, auch wenn sie unter den aktuellen Rahmenbedingungen zu roten Zahlen führt. Und zwar nicht mit kleinen Ausnahmen im DRG-System, sondern einer tiefgreifenden Reform. Wir beschäftigen auf Kassen- wie Klinikseite zu viel Personal in der Abrechnung – davon kommt nichts beim Patienten an. Wir brauchen wieder eine Orientierung an den Menschen – an den Patienten und dem Personal. (Mitarbeit Rebekka Höhl, Ärzte Zeitung)

Das Interview führte Dr. Kevin Schulte, erschienen in der BDI aktuell 11/2022