BDI: Was sind die drängendsten Probleme im ambulanten Versorgungsbereich? Herr Dr. Nolte, vielleicht zunächst aus hausärztlicher Sicht.
Dr. Johannes Nolte: Was mich am meisten sorgt, ist, dass der ambulante Bereich kaum wahrgenommen wird. Das liegt zum einen an den großen Krisen unserer Zeit, leider aber auch daran, dass – fällt der Blick dann doch einmal aufs Gesundheitswesen – es nur um die drohenden Pleitewellen der Kliniken geht. Uns wird das Gefühl vermittelt, „um den ambulanten Bereich können wir uns ja dann kümmern, wenn alle Krankenhäuser saniert sind“. Uns wird nicht zugehört. Und wenn Probleme doch einmal identifiziert werden, werden sie per Mikromanagement geregelt: Medikamente sind nicht mehr verfügbar? Dann heben wir die Preisbindung auf. Kinderarztpraxen sind überfüllt? Dann heben wir mal schnell die Budgetierung bei den Kinderärzten auf. Man schaut sich nicht das große Ganze an, man analysiert nicht, woran das System krankt und wo unsere grundsätzlichen Probleme liegen.
Wenn Sie Gesundheitsminister Lauterbach ein Problem nennen könnten, um das er sich morgen kümmern muss, welches wäre das?
Nolte: Der Hausärztemangel. In jeder Regionalzeitung wird mittlerweile darüber berichtet – zumindest hier in Nordrhein –, trotzdem hat man das Gefühl, es kommt nicht da an, wo es adressiert werden muss. Über ein Drittel der Hausärzte in NRW sind älter als 60 Jahre.
Herr Dr. Janzen, wie sehen Sie das als Facharzt, wo drückt der Schuh im ambulanten Bereich aktuell am meisten?
Dr. Constantin Janzen: Ganz ehrlich, es gibt viele Leistungen, die ich als Facharzt nicht erbringe, weil sie nicht bezahlt werden. Für die Hausärzte bedeutet das, dass sie Patienten für Untersuchungen und Weiterbehandlung nicht unterbringen können. Auf der anderen Seite gibt es Fehlanreize bei den Leistungen, die bezahlt werden. Will heißen, die Budgetierung ist ein sehr großes Problem. Hinzu kommt, dass die Regelungen aus dem Terminservice- und Versorgungsgesetz weggefallen sind. Kurz vor knapp wurde noch etwas gegengesteuert, indem Hausärzte für die Vermittlung von Facharztterminen 15 Euro erhalten und ich als Facharzt die erbrachte Leistung extrabudgetär vergütet bekomme. Im Prinzip ist es ja eine gute Idee von Lauterbach, die Akutfälle aus den Facharztpraxen herauszunehmen und hier die Hausärzte einzubeziehen, aber das müsste besser gemacht werden.
Und auch im fachärztlichen Bereich gibt es Nachwuchsmangel. Ein Beispiel: Nicht nur für Kliniken, auch im niedergelassenen Bereich ist es mittlerweile äußerst schwierig, junge Gastroenterologinnen und Gastroenterologen zu finden. Dabei ist jedes Fachkrankenhaus auf Gastroenterologen angewiesen. Es wird immer schwerer, die Weiterbildung zu absolvieren, weil man nicht auf die notwendigen Stückzahlen kommt – in einem Bereich, der wichtig für die Basisversorgung der Bevölkerung ist.
Hauptproblem ist also der Ärztemangel. Was müsste denn passieren, damit Sie in Ihrer Praxis diesem Mangel noch heftiger entgegentreten, also mehr Sprechstunden anbieten. Ist das überhaupt möglich? Und was könnte die Politik tun, um Sie zu Mehrarbeit zu motivieren?
Nolte: Es gibt zwei Ansatzpunkte: Zum einen brauchen wir eine funktionierende Patientensteuerung. Wir werden in den Praxen zugeschüttet mit Bagatellfällen, die beim Arzt nichts zu suchen haben. Gleiches gilt für Rettungsdienst und Notaufnahmen. Wir leisten es uns, den Rettungsdienst teilweise als Taxiunternehmen für Menschen zu bezahlen, die es nicht für nötig halten, sich einen Hausarzt zu suchen. Wir leisten es uns, die Notaufnahmen, mit völlig anderen Versorgungsstrukturen, als es die Hausarztpraxis hat, als Ersatzhausarzt zu nutzen. Das kann so nicht weitergehen, wenn wir andererseits sagen, dass das Geld endlich ist.
Und ja, wenn die Vergütung nicht steigt, sondern nach Abzug der Inflation sogar sinkt und die Patientenversorgung somit immer unattraktiver wird, dann findet man keinen Nachwuchs und dann sind wir Ärzte nicht mehr bereit, immer mehr Patienten zu versorgen und länger zu arbeiten. Erst recht nicht, wenn die Leistungen budgetiert werden. Wenn ich mehr Termine anbiete, dann werden nicht nur die Termine, für die es ein Honorar gibt ausgeweitet, sondern auch jene – vor allem am Ende des Quartals – auf die kein angemessenes Honorar entfällt.
Kann die Entbudgetierung für alle wirklich das Allheilmittel sein? Wie Sie schon sagen, das Geld im derzeitigen GKV-System ist nun einmal endlich ...
Nolte: Wir können sehr grundsätzlich werden und fragen, warum ist das Geld denn endlich? Warum hat man in einer sozialen Marktwirtschaft ein teils planwirtschaftliches System? Ja, es ist richtig, die Entbudgetierung löst nicht alle Probleme. Probleme werden eher dadurch gelöst, dass an Stellen, an denen Geld unnötig ausgegeben wird, gespart wird. Und an den Stellen, wo das Geld eher gebraucht wird, mehr ausgegeben wird. Ich würde mir zum Beispiel wünschen, dass unser fachärztlicher Kollege in die Lage versetzt wird, viel mehr ambulante Gastroskopien durchzuführen, damit nicht die Krankenhäuser massenhaft Gastritis-DRG abrechnen, die meiner Meinung nach zu 90 Prozent im stationären Bereich nichts zu suchen haben.
Herr Dr. Janzen, was sagen Sie dazu?
Janzen: Es gibt ja nur zwei Möglichkeiten, unsere Situation zu verbessern: Entweder gibt es mehr Ärzte – damit ist auf Sicht aber nicht zu rechnen – oder es gibt mehr Geld. In unserer Generation spielt Geld zwar nicht mehr eine so große Rolle, wie vielleicht noch vor 20 Jahren, aber es ist der einzige Anreiz, den die Politik setzen kann, damit wir mehr Arztleistung haben. Ich könnte viel mehr Magenspiegelungen machen, ich habe zwei freie Nachmittage, ich arbeite nicht am Wochenende. Ich würde mehr arbeiten, wenn ich mehr Geld dafür bekäme. Ich habe mich aus einer Gemeinschaftspraxis gelöst und neu niedergelassen. Am Anfang habe ich für die Standardleistung bei der Gastroskopie 50 Prozent ausbezahlt bekommen. Welcher Handwerker macht denn das? Ich mache jetzt nur noch Koloskopien, tag ein, tag aus, weil das bezahlt wird. Keine gute Entwicklung, wie ich finde.
Also ja, die Entbudgetierung würde helfen. Im niedergelassenen Bereich versorgen wir 90 Prozent, wenn nicht mehr der Patientenfälle. Wir sind das Rückgrat des deutschen Gesundheitssystems. Wenn man Geld investiert, dann in uns.
Der Mittwoch soll laut einiger ärztlicher Verbände und auch KVen künftig ja der Fortbildung dienen und der Bürokratietag der Haus- und Fachärzte werden. Wie stehen Sie denn zur Forderung nach dieser Vier-Tage-Woche in den Praxen? Genau richtig oder der falsche Ansatz in einer Zeit, in der alle auf Haus- und Facharzttermine warten?
Janzen: Meiner Meinung nach ist das eine polemische Forderung. Auch wenn sie in meiner Praxis durchführbar wäre. Das liegt aber nur daran, dass ich freie Kapazitäten hätte. Nur, was mache ich dann mit meinen Mitarbeitern? Die müssten ja vollen Lohnausgleich bekommen. Oder ich müsste schauen, ob ich es bei den Vollzeitkräften hinbekomme, die 38,5 Stunden, die im Vertrag drin stehen, anders auszufüllen, das ist der Casus knacksus. Und da müsste ich in mich gehen, ob ich das tun wollte.
Nolte: Ich halte das für einen absoluten Akt der Verzweiflung. Ja, man kann das machen, aber es kann nur eine plakative Aktion bleiben, um aufzurütteln. Nehmen wir mein Beispiel: Bei den meisten Leistungen, die nicht budgetiert sind, handelt es sich um Vorsorgeleistungen wie die Check-up-Untersuchungen morgens. Diese Check-up-Untersuchungen nehmen auch gerne Privatpatienten wahr. Ich schneide mir also ins eigene Fleisch, wenn ich den Mittwoch frei mache und einen Tag weniger Check-up-Untersuchungen anbiete. Viel besser wäre es, sollte bei der nächsten Honorarverhandlung wieder eine Honorarsteigerung weit unterhalb der gestiegenen Kosten insbesondere für Personal und Energie herauskommen und die GKV gar erneut eine Nullrunde fordern, dass sich dann alle Berufsverbände zusammentun und eine gemeinsame Aktion fahren. Und zwar eine, die es wirklich einmal in allen Zeitungen auf die Titelseite schafft. Jetzt einfach den Mittwoch frei zu machen, sorry, damit rütteln wir niemanden wach.
Also eine konzertierte Aktion statt des freien Mittwochs?
Nolte: Ja, und zwar von allen ärztlichen Berufsgruppen in ganz Deutschland, so dass es auf den Titelseiten landet.
Janzen: Wir müssen die Politik zwingen – und das machen wir bislang sehr schlecht –, den Patienten zu erklären, dass das ein System ist, das endlich ist. Wie gesagt, es geht darum, dass in der Notaufnahme nicht die Bagatellfälle auftauchen. Und auch in den Praxen solche Bagatellfälle nichts zu suchen haben. Die Politik muss den Mut gewinnen, bei begrenzten Ressourcen der Bevölkerung zu erklären, dass das System auf Dauer so nicht funktionieren wird.
Kommen wir noch einmal zum Thema Mangel. Was würde Ihnen denn im Alltag helfen, also welche Innovation würde tatsächlich Entlastung schaffen?
Janzen: Eine Digitalisierung, die funktioniert. Dazu gehören auch ärztliche Kollegen, die sich der Digitalisierung nicht entgegenstellen, sondern mir die Möglichkeit geben, die Arztbriefe per KIM zu übermitteln. Diese Sturheit vor allem der älteren Kollegen, alles per Fax zu fahren oder gar als ausgedruckter Brief – das ist ein unnötiger Aufwand, den ich nicht nachvollziehen kann.
Weiterhin würde mir helfen, wenn es eine Gesundheitskarte gäbe, die diesen Namen auch verdient. Eine Karte also, über die Gesundheitsdaten so gespeichert werden, dass ich auf diese, sofern es der Patient zulässt, wirklich zugreifen kann. Wie häufig habe ich Arztbriefe, Indikationen, Diagnosen abgeschrieben … das ist ein enormer Zeitaufwand, der so nicht sein müsste.
Nolte: Beim Thema Digitalisierung gebe ich Constantin völlig recht. Ein anderes Beispiel: Es gibt seit geraumer Zeit den bundeseinheitlichen Medikamentenplan. An sich eine tolle Sache. Aber genau dieser bundeseinheitliche Plan verlangt von mir, nun wieder den Handelsnamen aufzuschreiben. Ich habe den Patienten gerade erst abgewöhnt, auf den Handelsnamen zu schauen, sondern stattdessen auf den Wirkstoff zu achten und dann kommt so etwas. Das sind schlecht gemachte Innovationen, die uns nicht weiterhelfen.
Noch ein Beispiel: Die Videosprechstunde ist gerade in aller Munde. Sie wird wahnsinnig gefördert und ist damit lukrativ. Wenn ich nun aber eine 80-jährige Patientin, die nicht mit mir über Smartphone via Videosprechstunde sprechen kann, anrufen möchte, kann ich das nicht abrechnen. Warum gibt es keine Möglichkeit, die Telefonsprechstunde auch außerhalb der Pandemie sinnvoll abzurechnen? Das sind die Dinge, die mir das Leben erleichtern würden, wenn ich die Leute eben nicht immer zwingen müsste, zu mir in die Praxis zu kommen und mir in die Augen zu schauen, damit ich eine Leistung abrechnen kann, die ich auch telefonisch erbringen könnte.
Wie sieht es denn mit Telemedizin und anderen neuen Techniken aus, könnten diese Ihren Alltag erleichtern?
Nolte: Die Politik sollte aufhören, alles Neue immer gleich als Gamechanger aufzufassen. Nehmen wir die Digitalen Gesundheitsanwendungen. Hier kostet eine Smartphone-App ohne Nutzennachweis mehr als die gesamte Behandlung, die ich dem Patienten ein Jahr lang angedeihen lassen kann und ich soll es auch noch verordnen … es kann sicher dem ein oder anderen Patienten nützen, ein wissenschaftlicher Beleg existiert wie gesagt bislang nicht, also ja, neue Techniken können sinnstiftend eingesetzt werden, sie sind aber nicht die Lösung aller Probleme.
Janzen: Die Politik versucht sich an solchen Leuchtturmprojekten aufzuhalten, damit sie etwas vorzuweisen hat. Das hat man bei Herrn Spahn auch gesehen, der hat ja eine Sau nach der anderen durchs Dorf getrieben. Es war vielleicht nicht alles schlecht, was er gemacht hat … die Frage ist aber doch, ob es das System vorangebracht hat und das ist nicht der Fall. Sowohl Spahn wie Lauterbach haben die großen Systempunkte nicht angefasst, weder im ambulanten noch im stationären Sektor.
Blicken wir noch einmal auf die Kliniken. Es gibt ja die Idee, dass hausärztlich tätige Kollegen künftig Patienten im Krankenhaus mitbetreuen sollen – abgerechnet wird aber nach EBM. Wie bewerten Sie das?
Nolte: Hört sich ein bisschen nach Kurzzeitpflege an. Dann lieber unser stationärer Sektor, wie wir ihn kennen, aber ohne Fälle die besser und günstiger von den Niedergelassenen erbracht werden können.
Janzen: In Niedersachsen wird es ja sehr wahrscheinlich zur Schließung kleinerer Häuser kommen. Die Politik glaubt tatsächlich, dass man den Leuten den Entzug des kleinen Krankenhauses durch solche Modelle substituieren kann.
Und da sie kein Personal haben, versuchen sie, die hausärztlichen Kollegen ran zu ziehen. Ich frage mich nur, wann die Hausärzte das auch noch machen sollen.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Das Interview führten Dr. med. Kevin Schulte und Rebekka Höhl von der Ärzte Zeitung, erschienen in der BDI aktuell 03/2023