Was haben wir uns über Jens Spahn aufgeregt, als dieser mit geradezu überschwänglichem Eifer allein in seinem ersten Amtsjahr fast ein Dutzend Gesetze auf den Weg gebracht hat und damit sein eigenes Ministerium, das Parlament und auch die Verbände konstant auf Trab gehalten hat. Das Eiltempo, mit denen Maßnahmen wie die Pflegepersonaluntergrenzen, Terminservicestellen oder die Telematik-Infrastruktur inklusive digitaler Gesundheitsanwendungen eingeführt wurden, hat unweigerlich zu konzeptionellen und handwerklichen Mängeln geführt. Etwas mehr Sorgfalt wäre nachhaltiger gewesen. Eines muss der Gesundheitsminister a.D. sich jedoch nicht vorwerfen lassen: fehlender Tatendrang und Mut, Probleme anzugehen.
Was Jens Spahn zu viel hatte, hat Karl Lauterbach zu wenig. In unserem Gesundheitswesen brennt es an allen Ecken und Enden: Die Krankenhausplanung und -finanzierung führt zu einem ruinösen Wettbewerb, der auf dem Rücken der Patienten und des Personals ausgetragen wird; es mangelt flächendeckend an Pflegepersonal und Ärztinnen und Ärzten; Deutschland hat die teuersten Medikamente und die schlechteste digitale Infrastruktur. Wir brauchen dringend Reformen. Aber der Gesundheitsminister scheint weiterhin nur ein Thema zu kennen: Corona. Zuletzt mutmaßte Lauterbach, dass uns im Herbst „eine absolute Killervariante“ des Virus drohe und sorgte damit sowohl innerhalb der Ärzteschaft als auch bei Fachpolitikern für Kopfschütteln. Aktuell kann niemand sicher sagen, welche Variante wir im Herbst bekommen. Vorsicht ist selbstverständlich geboten und wir sollten darauf vorbereitet sein, dass noch einmal eine Variante kommt, die zu einer höheren Krankheitsschwere führt. Die Wortwahl des Ministers ist jedoch unseriös und nicht zielführend.
In Anbetracht des massiven Reformbedarfs sollte man eigentlich meinen, dass die Coronapandemie nicht das einzige Thema im Ministerium ist. Der Blick auf die Vorhabenplanung lässt jedoch nicht vermuten, dass irgendeine Großbaustelle zeitnah bearbeitet wird. Gleichzeitig signalisiert der Minister nur wenig Gesprächsbereitschaft in Richtung der ärztlichen Verbände und Körperschaften. Ihre Positionen seien schließlich hinlänglich bekannt. Stattdessen will Lauterbach die Wissenschaft stärker einbinden. Theorie statt Praxis. Das Rezept für vorprogrammierten Misserfolg? Das DRG-System, das Lauterbach seinerzeit selbst mit eingeführt hat, ist der beste Beweis. Aber auch ein Blick in die jüngere gesundheitspolitische Vergangenheit – Stichwort Telematik-Infrastruktur – hätte die Erkenntnis gebracht, dass die Einbeziehung all jener, die tagtäglich im Gesundheitswesen arbeiten, für den Erfolg einer Maßnahme entscheidend ist.
Auch wenn der Minister es nicht hören will: Die Berufsverbände bündeln die Interessen und die Expertise eines Großteils der Beschäftigten im Gesundheitswesen. Der BDI blickt mit seiner heterogenen und starken Mitgliederbasis in allen Versorgungsbereichen auch über den internistischen Tellerrand hinaus und hat den Anspruch, das System für alle zu verbessern. Die Probleme sind – insofern hat Karl Lauterbach recht – bekannt. Die Ärzteschaft verlangt auch nicht, dass alle Aufgaben auf einmal gelöst werden. Man muss von einem Bundesminister jedoch erwarten können, dass notwendige Reformen strukturiert und mutig in Angriff genommen werden. Das Ergebnis wissenschaftlich fundierter Politik sollte nicht Untätigkeit sein. So riskiert der Gesundheitsminister der Social-Media-Herzen, bald entzaubert zu werden.
Ihre
Christine Neumann-Grutzeck
Präsidentin
Erschienen in BDIaktuell 05/2022