StartseitePresseKontakt

| Interview

„Über die tarifliche 42-Stunden-Woche wären wir schon froh“

Wie könnte New Work im Gesundheitswesen funktionieren? Wo müssten und können Politik, Verbände und Kliniken selbst anpacken, um den Arbeitsplatz Krankenhaus für den Nachwuchs wieder attraktiv zu gestalten? Das Roundtable-Gespräch mit einer Assistenzärztin, einem Chefarzt und der Vizevorstandsvorsitzenden der DKG gibt Denkanstöße.

© AXENTIS.DE / LOPATA / DKG

© BERTRAM SOLCHER

© Privat

© Privat

BDI aktuell: Frau Dr. Reichardt, wenn wir über New Work im Krankenhaus sprechen, wie sähe dann aus Ihrer Sicht die perfekte Welt für Assistenzärztinnen und -ärzte aus?

Dr. Jana Reichardt: Damit nachvollziehbar ist, was ich meine, möchte ich vorab einige Probleme benennen, die ich und viele andere Assistenzärztinnen und -ärzte wahrnehmen. Wir hatten ja im letzten Interview (BDI aktuell, November-Ausgabe) schon darüber gesprochen: Die Arbeitsabläufe in den Kliniken sind extrem ineffizient gestaltet. Wir verbringen viel Zeit damit, Dinge zu dokumentieren – oft handelt es sich dabei auch noch um doppelte Dokumentation. Wir haben teilweise mehrere IT-Systeme, denen untereinander Schnittstellen fehlen, das führt dann zu dieser Mehrarbeit. Und da ist das Gefühl, dass wir als Ärztinnen und Ärzte zunehmend Arbeiten ausführen, die gar nicht in unseren Aufgabenbereich fallen. Irgendwann lassen sich Dinge eben nicht mehr weiterdelegieren und dann sind wir diejenigen, die es machen.

... das sind die Probleme und wie lautet Ihre Vision? Wie sollte es sein?

Reichardt: Meine Vision ist, dass wir es in nicht allzu ferner Zukunft – da bin ich mittelmäßig optimistisch – schaffen, auch in den Krankenhäusern eine vernünftige Digitalisierung Einzug halten zu lassen. Mit deren Hilfe wir diese teils unnötige und eigentlich nicht-ärztliche Arbeit minimieren und entschlacken.

Ein zweiter Punkt, den ich sehe, sind die sehr verkrusteten Machtstrukturen und Abhängigkeiten, die wir in der Medizin immer noch haben und die für mich jeglicher Transparenz entbehren. Diese machen es extrem schwer, die Motivation, gute Klinikerin, guter Kliniker zu sein, aufrechtzuerhalten, weil nicht ersichtlich ist, was eigentlich belohnt wird.

Hinzu kommt der Eindruck, dass es keine ausgeglichene Verteilung zwischen den drei Säulen einer Uniklinik, also zwischen „Klinik, Lehre, Forschung“, gibt. Gerne gesehen ist der, der lukrative Forschung macht, Gelder für die Klinik eintreibt und prestigeträchtige Projekte begleitet. Das verstehe ich durchaus. Wir müssen aber auch schauen, wie wir Klinikerinnen und Kliniker wertschätzen können, wie wir qualitativ hochwertige Medizin im positiven Sinne messbar machen. Ebenso wie Lehre, die fällt in der Regel hinten runter, die macht man nebenher.

Herr Professor Ghanem, gute Digitalisierung, keine verkrusteten Führungsstrukturen, Wertschätzung … das sind ja alles Dinge, die das Gesundheitswesen durch gute Organisation selbst regeln könnte. Was könnte die Ärzteschaft besser machen?

Professor Alexander Ghanem: Ich habe mich in beinahe 95 Prozent der Dinge, die Frau Reichardt geschildert hat, wiedergefunden, obwohl meine Assistenzarztzeit 20 Jahre her ist.

Es ist leider wenig Selbstreflexion bei uns Ärztinnen und Ärzten angekommen. Ich selbst bin gut damit gefahren, den Fehler erst mal bei mir zu suchen und zu finden, weil das die einzige Variable in diesem Spiel ist, die ich aktiv verändern kann.

Ich habe gemerkt, dass ich selbst die Initiative ergreifen muss. Das gelingt mir gut in dem kleinen Vorgarten vor meiner Tür, also vor Ort in unserer Klinik.

Dabei sind auch Delegationskonzepte ein Thema. Wir haben das bei uns ABCDE genannt – Administration, Blutentnahme, Kodierung, Dokumentation, EKGs schreiben – das sind so die ABCDE-Sachen eines Kardiologen. Auch bei uns waren diese Aufgaben anfänglich in ärztlicher Hand. Wir haben zusammen mit unserem kaufmännischen Direktor, der erfreulicherweise auch Arzt ist, diese Aufgaben in den letzten Monaten delegieren können. Er hat zugehört, er hat verstanden, dass Ärztinnen und Ärzte eine wichtige Ressource sind, und dass es wichtig ist, auch einen guten Arbeitsplatz zu bieten.

Persönlich habe ich zudem verstanden, dass ich mich von ein paar Dingen verabschieden muss, wenn ich meine Patienten standesgemäß und gut versorgt wissen will. Etwa von der humboldschen Ansicht eines Lehrers, Forschers und Klinikers. Ich bin bewusst die Laufbahn eines Klinikers gegangen, geholfen hat mir dabei das proaktive offene Wort mit meinen Chefs. Ich habe ihnen abverlangt, ehrlich mit mir zu sein: Reicht es für ein Ordinariat, reicht es für eine Chefarztposition, sollte ich in die Praxis gehen? Ich habe mir aber auch nicht einreden lassen, dass ich Ordinarius werde. Das ist die große Möhre, hinter der alle herrennen und dann erfüllen 95 Prozent der Menschen an der Uni diese Kriterien nicht und werden hingehalten und ausgenutzt.

Können Sie nachvollziehen, dass – wenn man sich auf den langen Weg zur Chefärztin, zum Chefarzt begibt –, manche Kollegen ihre Position vielleicht doch ausleben und wenn sie oben sind kein Freund mehr der flachen Hierarchien und des

lockeren Miteinanders sind?

Ghanem: Hier kann ich nur für mich sprechen. Am Ende steht der Patient, der versorgt werden muss, im Mittelpunkt – das ist mein Motiv. Ob man damit locker umgeht oder nicht, hängt davon ab, wie die jeweilige Klinik strukturiert ist.

Wenn etwa alles darauf fußt, dass nur einer eine bestimmte Prozedur kann und alle anderen ihm lediglich zuarbeiten, geht die Lockerheit verloren – weil nicht proaktiv Wissen geteilt und vermehrt wird. Ich sitze jetzt hier morgens um 11 hier mit Ihnen zum Interview und weiß genau, meine Kolleginnen und Kollegen rocken das im Team. Genau das sollte jeder Chef wollen. Oder anders gesagt, jeder der an der Ein-Mann- oder Ein-Frau-Struktur festhält, ist auf dem falschen Dampfer – zumindest in 2022.

Frau Neumeyer, wie sehen Sie das sozusagen aus der Metaebene der Deutschen Krankenhausgesellschaft heraus: Was können wir Ärztinnen und Ärzte selbst besser machen, also ohne die Politik zu fordern?

Professorin Henriette Neumeyer: Auch mich haben die Schilderungen von Frau Reichardt an die Zeit erinnert, als ich in den Job gestartet bin. Damals wollte ich noch Mund-Kiefer-Gesichtschirurgin werden. Das bin ich nicht geworden und ich habe auch gar keinen Facharzt mehr gemacht. Es war die Hochzeit des Wirksamwerdens des DRG-Systems in den deutschen Krankenhäusern. Das ist jetzt rund zwölf Jahre her. Das erste, was man damals im Arztjob gemacht hat, war ein DRG-Seminar und Leistungen Kodieren, mit Patienten hatte das nichts zu tun ...

Ich glaube, Mediziner spielen eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, die Medizin – und zwar nicht nur die digitale Medizin – von morgen zu prägen. Was ist patientenorientiert? Wie funktioniert intersektoral gutes behandeln? Das kann man nicht allein einem politisch-administrativen Feld überlassen. Dass es den Behandlern, den Pflegekräften im System gut geht, kann und sollte nicht jemand, der aus verwaltungspolitischer Sicht aufs Gesundheitswesen schaut, alleine gestalten. Und auch nicht eine Kommission aus wenigen Leuten. Es muss ein Prozess sein, in dem sich Mediziner und Pflegekräfte zusammenschließen und aufzeigen, was an der Art, wie wir Medizin und Pflege im jetzigen System erbringen, nicht stimmt, und wie patientenorientierte Versorgung besser funktionieren könnte. Dieses Design wird vor dem Hintergrund eines Fachkräftemangels entstehen, das kann und muss dann auch zum Abbau von Bürokratie führen.

Wer wäre denn verantwortlich, diesen kulturellen Wandel voranzutreiben? Sind das die jungen Ärztinnen und Ärzte in Berlin, die sagen, es reicht? Sind das Menschen wie Herr Ghanem, die das System verstanden haben und im Rahmen ihres eigenen Vorgartens daraus die bestmöglichen Bedingungen herausholen? Oder ist es Aufgabe der DKG und des BDI, für einen Kulturwandel zu werben?

Neumeyer: Es ist die Aufgabe der Verbände, zu überlegen und deutlich zu machen, warum es sie eigentlich gibt. Die DKG hat ja zwei Funktionen. Zum einen die Interessenvertretung, zum anderen die politische Mitarbeit. In beiden Funktionen ist es wichtig, zuzuhören. Wir müssen die Themen, die Frau Reichardt und Herr Ghanem vorgebracht haben aufgreifen, verdichten und verstehbar machen – auch für Berufspolitiker, die vielleicht neben Krankenhausreformen noch 20 andere Abstimmungen am Tag haben.

Das alleine reicht aber nicht. Tatsächlich ist die Abstimmung mit den Füßen enorm wichtig. Wenn eine Umfrage vom Marburger Bund zum Ergebnis kommt, wie viele Ärzte unzufrieden sind, dann schafft das Aufmerksamkeit. Das hat Strahlkraft.

Herr Ghanem, wie sehen Sie das?

Ghanem: Ich habe mich immer gefragt, was der richtige Hebel ist. Ich habe den Eindruck, es muss eine Mischung aus Bottom-up und Lobbyismus sein. Die nächsten zwei, drei Jahre werden sicher entscheidend sein.

Dabei habe ich eher die Position eines sehr lokal agierenden Katalysators inne. Ich kann in meinem kleinen Gewächshaus Bedingungen schaffen, dass etwas größere Tomaten wachsen können. Klar ist, dass jeder hier auch seinen Schnitt macht und ich ihn nicht aussauge und er oder sie mit 55 Jahren noch Hintergrunddienste schrubben muss. Jeder weiß: „Mit 45 reden wir mit den ersten Niedergelassenen um uns herum, dann steigst Du in Teilzeit in die Praxen ein und wir sorgen dafür, dass Du langsam aus den Diensten rauskommst. Dann bist Du mit 50, 55 zunehmend in der Selbstbestimmung.“ Dieses Gewächshaus ist aber ein sehr lokal umschrieben funktionierendes. Deshalb glaube ich, es ist der Nachwuchs, der uns dazu bringen muss, tatsächlich auch mit den Geschäftsführern so zu reden, dass wir dieses Gewächshaus noch größer und noch erfolgreicher werden lassen.

Frau Reichardt, den jungen Ärztinnen und Ärzten wird oft vorgeworfen, Unglaubliches zu fordern. Sind es denn die bunten Früchte von New Work, also 30-Stunden-Woche und Homeoffice, die sich die Jungen ersehnen?

Reichardt: Ich habe mit ganz vielen Kolleginnen und Kollegen gesprochen und ganz oft kam die Antwort: Ich will doch nur, dass das, was im Tarifvertrag steht, eingehalten wird. Ich möchte einfach nur meine 42-Stunden-Woche plus die erlaubten Bereitschaftsdienste. Oft ist es aber leider doch mehr.

Wir sehen hier eine Berufsgruppe, die bereit ist, extrem viel zu arbeiten, die sehr verantwortungsbewusst ist. Und die möchten gerne in Strukturen arbeiten, die ihnen rechtlich zustehen. Sicher hat sich diese Klientel in den vergangenen Jahren zu wenig für ihre Rechte eingesetzt und zu oft untragbare Arbeitsbedingungen einfach hingenommen. Deshalb brauchen wir diesen Kulturwandel unbedingt.

Ich fände eine 30-Stunden-Woche super, aber das ist nicht mein Anspruch. Ich wäre sehr zufrieden damit, wenn wir es schaffen würden, dass ich meine 42 Stunden die Woche und vielleicht einen Bereitschaftsdienst pro Woche einhalten könnte. Aber davon sind wir – je nach Abteilung – noch weit entfernt. Gerade weil wir einen so verantwortungsvollen Beruf ausüben, sollte sichergestellt werden, dass wir den auch weiterhin gut ausüben können, indem wir nicht chronisch überarbeitet sind. Indem wir nicht immer noch bis aufs letzte bisschen ausgewrungen werden.

Die Ärzte- und Ärztinnenschaft hat verglichen mit anderen Berufsgruppen keine so schlechte Lobby. Wir müssen unsere Hebel aber auch nutzen.

Was erwarten Sie hier denn ganz konkret von der Politik und auch der DKG?

Reichardt: Dass man eine gut funktionierende, allumfassende Digitalisierung in Krankenhäusern stärker forciert. Wir reden ja nicht erst seit zwei Monaten darüber. Und dass wir eine manipulationsfreie Erfassung unserer Arbeitszeiten aufsetzen. Aktuell ist es so, dass viele ärztliche Kollegen Überstunden machen, die nicht abgebildet werden. Würden wir diese besser erfassen, wüssten wir auch, welche Arbeit tatsächlich vergütet werden müsste. Oder wo vielleicht auch mehr Stellen geschaffen werden müssten.

Und natürlich, wie erwähnt, dass wir Abläufe rigoros entschlacken.

Herr Ghanem, wie lauten Ihre Forderungen an die Politik?

Ghanem: Was mir fehlt, ist, dass wir außerhalb von Legislaturperioden und Egotrips ein Bild zeichnen, wo wir hinwollen. Wie sieht unsere Idealwelt aus? Und dass wir dann skalieren, wie wir dort hinkommen. In meinem kleinen Gewächshaus gibt es den idealen Tag auf Station. Wir haben uns hingesetzt und diesen skizziert. Und da gibt es ganz interessante Ideen, dass man sich etwa interdisziplinär und interprofessionell so synchronisiert, dass es Tagesabschnitte gibt, die gleichzeitig passieren. Das sorgt dafür, dass in diesen synchronen Abschnitten nicht mehr so viel telefoniert wird, mehr Freiräume für stille Stunden da sind. Ganz kleine Dinge sind in diesem Gewächshaus passiert und die skalieren wir hoch.

Frau Neumeyer, sehen Sie diese Vision und was muss passieren, dass wir dahin kommen?

Neumeyer: Ich kann Herrn Ghanem nur zustimmen. Ich glaube, dass das Wissen darüber, was wir tun müssten, im System vorhanden ist. Wir haben nur oft zu viele Schranken im Kopf, so kommt man nicht zur Vision. Das heißt, ich muss erst einmal Räume für Ideen, für Parameter, auf die man sich einigt, öffnen. Eine Krankenhauskommission wird diese Visionsarbeit nicht ersetzen können. Wir müssen uns dann aber auch über die Finanzierung dieses Wandels unterhalten. Wir müssen die richtigen Investitionen für diese neue Art zu Arbeiten tätigen und weg kommen vom alten Budgetdenken und der Vorstellung, das Gesundheit nichts kosten darf.

Das Interview führte Dr. Kevin Schulte, erschienen in der BDI aktuell 12/2022