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Selektive Wissenschaftlichkeit

BDI-Präsidentin Christine Neumann-Grutzeck / © Privat

Wenn man von allen kritisiert wird, hat man entweder alles richtig oder alles falsch gemacht. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach spürt zur Zeit von allen Seiten den politischen Gegenwind: für seine Corona-Politik, für die geplanten Sparmaßnahmen, um das Loch in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu stopfen, und vor allem auch für seine Kommunikation.

Es ist in keiner Weise nachzuvollziehen, wenn Lauterbach als großer Verfechter der evidenzbasierten Medizin und der Wissenschaft die Ständige Impfkommission (STIKO) öffentlich vor sich hertreibt, wie zuletzt bei der Debatte um die 4. Corona-Impfung für unter 70-Jährige. Richtig ist, dass wir uns frühzeitig auf den Herbst und Winter vorbereiten müssen. Dazu gehört auch, dass wir die Impfquoten – auch bei den Booster-Impfungen – weiter erhöhen. Mittlerweile hat die STIKO ihre Empfehlungen zwar angepasst. Für das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger ist es jedoch kontraproduktiv, wenn der Minister der STIKO widerspricht, weil es ihm nicht schnell genug geht. Keinen Zeitdruck hingegen scheint Lauterbach zu verspüren, wenn er auf seine wissenschaftlichen Kommissionen verweist, welche die Reform der Krankenhausfinanzierung oder Notfallversorgung ausarbeiten sollen. Diese lassen nämlich weiterhin auf sich warten.

So richtig auf die Palme gebracht hat Lauterbach die Selbstverwaltungspartner aber mit seinem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz. Im nächsten Jahr fehlen der GKV 17 Milliarden Euro. Um die Finanzierungslücke zu schließen, plant die Bundesregierung nicht nur die Anhebung der Zusatzbeiträge der Versicherten. Es soll auch gespart werden. Natürlich am liebsten zulasten der Leistungserbringer.

Den Rotstift hat der Minister dabei besonders bei den Vertragsärztinnen und -ärzten angesetzt. Die Neupatienten-Regelung, die erst 2019 mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) eingeführt wurde, soll gestrichen werden. Auch für extrabudgetäre Leistungen, die im Rahmen der offenen Sprechstunde erbracht werden, soll ab 2023 eine Bereinigung der Gesamtvergütung stattfinden. Selbstverständlich ohne das Mindestsprechstundenangebot, das mit dem TSVG um 25 Prozent ausgeweitet wurde, wieder zu reduzieren. Denn offensichtliche Leistungskürzungen für Versicherte schließt der Minister kategorisch aus.

Damit werden die Vertragsärzte – eben noch für ihre Leistungen in der Pandemie gelobt – jetzt für ihren Mehraufwand vollkommen inakzeptabel bestraft. Mit dem vorgelegten Entwurf führt die Bundesregierung alle Bemühungen, die ambulante Versorgung zu stärken, ad absurdum. So drängt man die Kolleginnen und Kollegen eher aus der Versorgung, anstatt die Niederlassung attraktiver zu machen. Zumal das TSVG gewirkt hat. Wissenschaftliche (!) Daten des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung belegen, dass seit 2019 signifikant mehr Neupatienten (12 Prozent) versorgt wurden. Davon will man im Bundesministerium aber nichts wissen, wie die Antwort auf eine schriftliche Anfrage der Linken-Abgeordneten im Bundestag Kathrin Vogler belegt. Man sucht sich halt die Daten, die einem gelegen kommen.

Diese selektive Wissenschaftlichkeit und ständigen Kurswechsel sind ein herber Schlag für das Vertrauen in die Politik. Viele Kolleginnen und Kollegen sind mit ihrer Geduld zu Recht am Ende. So kann es nicht weitergehen. Eine substanzielle Systemkrise erfordert übergreifende, nachhaltige Reformen, keine kurzsichtige Flickschusterei auf dem Rücken der Ärzteschaft.

Der Gesundheitsminister muss sich überlegen, für welche Art von Politik er stehen will. Eine wissenschaftliche Fundierung ist prinzipiell gut. Zu dieser Linie gehören aber auch Selbstreflexion, Offenheit für fundierte Argumente und Kritikfähigkeit. Diese Eigenschaften scheinen bei Herrn Lauterbach im Moment nicht im Vordergrund zu stehen.

Wenn alle sich beschweren, ist die Kritik vielleicht doch berechtigt?

Ihre

Christine Neumann-Grutzeck
Präsidentin

Erschienen in BDIaktuell 09/2022