Liebe Kolleginnen und Kollegen,
die von Journalisten üblicherweise eingeräumte 100-Tage-Frist für einen Regierungsstart ist für die Ampelkoalition im März abgelaufen. Von dem Versprechen der Koalition, mehr Fortschritt zu wagen, ist bislang aber kaum etwas zu spüren. Das betrifft insbesondere die Gesundheitspolitik.
Die Pandemie hat mit Karl Lauterbach einem Mann vom Fach den Weg ins Ministeramt geebnet. Jetzt muss er beweisen, dass er den Übergang vom Corona-Erklärer zum Manager vollziehen kann. Der Start verlief holprig. In der Corona-Politik konnte sich der neue Bundesgesundheitsminister bislang gegenüber einem Koalitionspartner nicht durchsetzen. Das wurde bei der Novellierung des Infektionsschutzgesetzes deutlich. Auch die Lockerungen und der Wegfall der Maskenpflicht im März haben die Pandemielage verkannt. Die ganze Konzeptlosigkeit zeigte sich dann bei dem Schnellschuss einer freiwilligen Quarantäne und dem Scheitern der Einführung einer allgemeinen Impflicht. Der Gipfel ist aktuell mit der Warnung vor der “Killervariante im Herbst” erreicht.
Zur Pandemie gesellt sich nun auch noch ein zerstörerischer und mörderischer Krieg mitten in Europa. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer flüchten in die Nachbarländer, auch nach Deutschland. In dieser Phase müssen wir sicherstellen, dass alle Geflüchteten unbürokratisch Hilfe bekommen und gut versorgt werden. Die öffentliche Hilfsbereitschaft ist weiterhin überwältigend. Auch viele Kolleginnen und Kollegen sind aktiv und engagieren sich. Erneut wird deutlich, dass man sich auf die Ärzteschaft verlassen kann.
Umso mehr hätten die Ärztinnen und Ärzte in Deutschland es verdient, dass dringende gesundheitspolitische Reformen zügig angegangen und umgesetzt werden. Es ist nachvollziehbar, dass die Pandemie und der Krieg ein hohes Maß an politischer und administrativer Aufmerksamkeit verlangen. Die Beschäftigten im Gesundheitswesen können in der Pandemie und zur Bewältigung der Kriegsfolgen maximalen Einsatz zeigen. Diese Ausnahmesituation darf jedoch nicht zum Normalfall werden.
Der durchgesickerte Maßnahmenplan des Gesundheitsministers für dieses Jahr enthält kaum substantielle Reformvorhaben. Dabei hat die Ärzteschaft hinlänglich deutlich gemacht, wo die Defizite im System liegen: Wir brauchen eine sinnvolle, anwenderfreundliche Digitalisierung. Sowohl die Krankenhausplanung und -finanzierung als auch die Organisation der Notfallversorgung müssen reformiert werden, wenn wir das Personal langfristig entlasten wollen. Ganz zu schweigen von der unendlichen Geschichte um die Gebührenordnung für Ärzte.
Die Expertise von Karl Lauterbach ist unbestritten. Politisches Handeln und Reformen erfordern jedoch mehr. Als Minister sind vor allem gutes Management, klare Zielvorgaben und Durchsetzungsvermögen gefragt. Genau diese Qualitäten brauchen wir jetzt. Vergessen Sie nicht diejenigen, Herr Minister, die das System am Laufen halten und packen Sie die Probleme an!
Ihre
Christine Neumann-Grutzeck
Präsidentin