Der an Krisen und bedrückenden Ereignissen wahrlich nicht arme Winter 2022/2023 hat uns allen vor Augen geführt, wie fragil vieles von dem ist, worauf wir hierzulande einen scheinbar selbstverständlichen Anspruch erheben. Dazu gehört auch die wohnortnahe ärztliche Versorgung rund um die Uhr. Als die Wartezimmer im Herbst mit Patienten mit Atemwegsinfekten vollliefen, und nicht nur die Krankenhäuser, sondern auch die Praxen SOS riefen, lag für manch einen die „Lösung“ auf der Hand: Die Niedergelassenen müssten einfach mehr arbeiten.
Tatsächlich wandte sich der Deutsche Städtetag mit einem Brief an den KBV-Vorstand, in dem er die Erwartung äußerte, dass wir Ärzte und MFA mit „entschlossenem Handeln“ zur Mehrarbeit, insbesondere zu Rand- und Wochenendzeiten zu „motivieren“ hätten. Dies sei vor dem Hintergrund der zunehmenden Überlastung von Kliniken und Notfallambulanzen und dem „fortschreitenden Versorgungsmangel im ambulanten Bereich“ dringend geboten.
Ernsthaft? Mit solchen Verdrehungen werden diejenigen, die „den Laden am Laufen“, sprich, trotz widriger Umstände die Versorgung aufrechterhalten, zum Sündenbock gemacht! Umgekehrt wird ein Schuh draus: 600 Millionen jährliche Behandlungsfälle in Praxen gegenüber 20 Millionen in den Kliniken sprechen für sich. Nicht nur in der Corona-Pandemie, sondern jeden Tag halten Vertragsärztinnen und -ärzte mit ihren Teams den Krankenhäusern den Rücken frei. Während die stationären Fallzahlen auch nach Ausklingen der Pandemie sinken, sind sie im ambulanten Bereich im Vergleich zum Vor-Pandemie-Zeitraum gestiegen. Arbeitsverweigerung ist offenkundig das Letzte, was man den Praxen vorwerfen kann! Dennoch sitzen in den Notfallambulanzen Menschen, die da nicht hingehören, das ist unbestritten. Hierbei handelt es sich jedoch keinesfalls um ein akut aufgetretenes Problem. Es den Niedergelassenen anzulasten, ist nichts weiter als der Versuch, von jahrelangen politischen Versäumnissen und eigener Untätigkeit abzulenken.
Auf der anderen Seite stehen die Praxen mit ihren Teams, die sagen: „Wir können nicht mehr.“ Erst die Pandemie, dann die frühe und hohe saisonale Infektwelle, die zusätzliche Versorgung Geflüchteter aus der Ukraine, enorm gestiegene Energiepreise, Inflation etc. Schon im Herbst, anlässlich der Pläne zur Abschaffung der Neupatientenregelung, war klar, dass der Frust und auch die Protestbereitschaft in der Ärzteschaft eine neue Qualität erreicht haben. Wir als KBV haben daraufhin gemeinsam mit den Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) mögliche Maßnahmen diskutiert. Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass das Meinungsbild divers war. Auch in der Ärzteschaft selbst reicht die Bandbreite von „Praxen dicht, sofort“ bis hin zu „Das können wir den Patienten nicht antun“. Wir als Körperschaften können nicht aktiv zu Praxisschließungen, Streiks oder Ähnlichem aufrufen. Allerdings haben viele KVen Protestaktionen ärztlicher Verbände im Rahmen ihrer Möglichkeiten unterstützt und tun dies nach wie vor. Letztendlich entscheidet jede/r Praxisinhaber/in selbst, wie er/sie die Praxis organisiert. Gesetzlich vorgegeben ist nur die Zahl von mindestens 25 Sprechstunden pro Woche, die für gesetzlich Versicherte gewährleistet sein müssen. Bei der Diskussion über Praxisschließungen ist dann allerdings oft zu hören, dass die ausfallenden Sprechstunden ohnehin nachgearbeitet würden – der Druck verschiebt sich also nur. Ganz abgesehen davon, dass sich die laufenden Kosten nicht verschieben lassen.
So oder so, mit Ad-hoc-Maßnahmen werden sich die strukturellen Probleme nicht dauerhaft lösen lassen. Politik muss begreifen: Praxen sind keine Wohltätigkeitseinrichtungen, sondern selbstständige Unternehmen, die wirtschaftlich tragfähig sein und den dort Tätigen ein gutes Auskommen sichern müssen. Leider arbeitet die derzeitige Politik lieber daran – nur scheinbar billigere – Ersatzstrukturen zu schaffen, als dafür zu sorgen, dass Ärzte und MFA’s ihre wertvolle Arbeit auch morgen noch gut und gerne tun können. Konkrete und umsetzbare Vorschläge seitens der KBV für eine Stabilisierung der Versorgung gibt es. Wenn hier kein Umdenken stattfindet, sind die Patienten auf jeden Fall die Leidtragenden.
Ein Gastbeitrag von Dr. Stephan Hofmeister, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der KBV und Facharzt für Allgemeinmedizin, erschienen in der BDI aktuell 03/2023