StartseitePresseKontakt

| Artikel

Geriatrie, Bollwerk gegen Pflegebedürftigkeit?

Die Altersmedizin wird in ihrer Bedeutung leider noch immer vielfach unterschätzt. Das könnte den Patienten, Ärzten und Pflege bei der Krankenhausreform zum Verhängnis werden.

Fotos: Jens Braune del Angel / privat

Warum ist Geriatrie nicht dasselbe wie Innere Medizin (oder Neurologie) mit alten Menschen? Um diese Frage aufzulösen, muss man verstehen, was das Fachgebiet grundsätzlich anders macht. Jeder Patient, jede Patientin wird vor oder gleichzeitig mit der nosologischen Betrachtung funktionell eingeschätzt. Um dies systematisch durchzuführen, nutzt die Geriatrie verschiedene Instrumente in einem umfassenden Geriatrischen Assessment. Oft und zunächst im Sinne eines Screenings, anschließend präzisierend, damit aus den Ergebnissen Interventionen abgeleitet werden können. Übliche Dimensionen, die erarbeitet werden, sind die Mobilität, die Kognition, der Affekt und soziale Red Flags. Meistens umfasst das Assessment aber auch Aspekte wie Hören, Sehen, Kontinenz und Schmerzen.

Banal? Mitnichten! In aktuellen Reviews inklusive dem aktuellen Cochrane Review von Ellis et al. 2017 zeigt sich, dass ein Assessment im Krankenhaus, welches anschließend eine Teamintervention, am besten in derselben Abteilung nach sich zieht, zu besseren Patienten-relevanten Endpunkten wie einer späteren Einweisung ins Pflegeheim, einer geringeren Sterblichkeit u.a. führt. Dies funktioniert nur dann, wenn gleichzeitig die Multimorbidität und die führende(n) Diagnose(n) nach „state of the art“ therapiert werden. Allerdings auch hier, angepasst an den alten Menschen. Eine Anämie im Alter hat andere Algorithmen in der diagnostischen Abfolge und andere Therapieentscheidungen als eine Anämie im jungen Erwachsenenalter.

So gibt es viele Beispiele. Keines davon wird ausreichen, um den Stellenwert der Geriatrie im Krankenhaus und das Fach ausreichend zu beschreiben. Die Geriatrie hat dieselbe Berechtigung wie die Pädiatrie. Eine fachärztliche Geriatrie wird allerdings weiterhin belächelt. Es ist Zeit umzudenken! Wir benötigen die Altersmedizin in qualitativ hochwertiger Weise als Facharztdisziplin und weiterhin in der Zusatzweiterbildung. Auch hausärztliche Internisten und Internistinnen und Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner können von geriatrischem (Um)Denken profitieren. Oder haben Sie schon einmal in ihrer Klinikeinweisung einen aktuellen MMSE oder Timed-Up & Go-Wert mitgeliefert bekommen? Obwohl diese in den Praxen gemäß Abrechnung regelmäßig gemacht werden und sehr hilfreich wären, um die prämorbide Funktionalität einzuschätzen und Therapie-Ansätze abstimmen zu können, war dies beispielhaft in der Akutgeriatrie in Ulm in 2022 bei genau 2 von >1500 Patienten der Fall.

Alles, was die Geriatrie macht, muss primär vor der Frage standhalten: Nutzt es der Patientin / dem Patienten im Sinne der Selbsthilfefähigkeit und entspricht es deren Wünschen und Zielen? Patienten- und funktionsorientierter geht nicht. Damit ist die Geriatrie in ihren akuten, frührehabilitativen und rehabilitativen Ansätzen in der Tat oft das letzte Bollwerk gegen Pflegebedürftigkeit. Allerdings nie alleine, sondern nur mit einer hochqualifizierten Pflege, Therapie und Sozialdienst im Team. Und am Ende nur mit einem funktionierenden Case-Management über die Sektoren hinweg.

Deshalb gilt es genau jetzt, die Krankenhausreform übergreifend zu denken. Ansonsten verlieren wir genau die, die am wenigsten Ressourcen haben resilient die Mängel des Systems zu überstehen: geriatrische Patienten. Ob diese am Ende von guten Ärzten, guter Pflege und guter Therapie in Level 1i oder Level 3 Häusern behandelt werden, ist weniger relevant, als ob der Arztbrief am Vorabend in der Praxis gelandet, das Rezept für die angepassten Diuretika und das Opioid abgeholt, der Sauerstoff-Konzentrator und der Rollator geliefert und die ambulante Reha genehmigt worden ist. Das Prinzip ist verstanden, aber wir müssen es in die Prozesse bringen.

Ein Beitrag von 

Prof. Dr. med. Michael Denkinger, Mitglied im BDI-Vorstand und Ärztlicher Direktor der AGAPLESION Bethesda Klinik Ulm

und

Dr. med. Walter Swoboda, Vorsitzender der Sektion „Geriatrie“ des BDI und in eigener Praxis in Würzburg niedergelassen; erschienen in der BDI aktuell 06/2023.