Liebe Kolleginnen und Kollegen,
etwas mehr als 100 Tage ist die Ampelregierung jetzt im Amt. Von dem Versprechen des Koalitionsvertrages, mehr Fortschritt zu wagen, ist bislang aber kaum etwas zu spüren. Das betrifft insbesondere auch die Gesundheitspolitik. Während das Pandemiegeschehen weiterhin unseren ärztlichen Alltag dominiert – wenn auch mit einer anderen Ausprägung als zuvor – folgt mit dem Ukraine-Krieg die nächste Katastrophe. Wieder sind Ärztinnen und Ärzte und medizinisches Personal gefordert. Es scheint, als wären wir im Krisenmodus gefangen.
Die Pandemie hat Karl Lauterbach den Weg auf die Ministerbank geebnet. Als einer der zentralen Corona-Erklärer des Landes, als Mann vom Fach, ist er das Amt angetreten und muss nun den Übergang zum Manager vollziehen. Der Start verlief holprig. In der Corona-Politik konnte sich der neue Bundesgesundheitsminister bislang gegenüber einem Koalitionspartner nicht durchsetzen. Das wurde erneut bei der Novellierung des Infektionsschutzgesetzes deutlich. Die Lockerungen und der Wegfall der Maskenpflicht verkennen die aktuelle Pandemielage. Die Auslastung der Intensivstationen ist längst keine Bedrohung mehr für unser Gesundheitssystem. Stattdessen verschiebt sich die Behandlung von Corona-Patienten – inklusive Isolationsaufwand – auf die Normalstationen. Zusätzlich führen infektionsbedingte Personalausfälle in Kliniken und Praxen zu einer weiteren Belastung des verbliebenen Personals. Eine Regelversorgung ist derzeit nur eingeschränkt möglich. In dieser Situation hätte ich mir von einem ärztlichen Kollegen im Amt mehr Unterstützung gewünscht und klügere Maßnahmen erwartet.
So sehr sich alle Beschäftigten im Gesundheitswesen also eine Erholungspause wünschen: sie ist vorerst nicht in Sicht. Zur Pandemie gesellt sich jetzt noch ein Krieg mitten in Europa. Der russische Angriff auf die Ukraine verursacht unvorstellbares Leid und Zerstörung. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer flüchten in die Nachbarländer, auch nach Deutschland. In dieser Phase müssen wir sicherstellen, dass alle Geflüchteten unbürokratisch Hilfe bekommen und gut versorgt werden. Die öffentliche Bereitschaft, Hilfe zu leisten, ist in diesen Tagen überwältigend. Auch viele Kolleginnen und Kollegen sind aktiv und engagieren sich. Erneut wird deutlich, dass man sich auf die Ärzteschaft verlassen kann.
Umso mehr hätten es die Kolleginnen und Kollegen verdient, dass dringende gesundheitspolitische Reformen angegangen und umgesetzt werden. Es ist absolut nachvollziehbar, dass die Pandemie und der Krieg in der Ukraine ein hohes Maß an politischer und administrativer Aufmerksamkeit verlangen. Diese Ausnahmesituation darf jedoch nicht zum Normalfall werden. Die Beschäftigten im Gesundheitswesen können in der Pandemie und zur Bewältigung der Kriegsfolgen maximalen Einsatz zeigen. Das geht aber nicht auf Dauer. Deshalb muss der Gesundheitsminister jetzt zügig einen konkreten Maßnahmenplan für diese Legislaturperiode vorlegen. Die Ärzteschaft hat hinlänglich deutlich gemacht, wo die Defizite im System liegen: sei es bei der Digitalisierung, der Krankenhausplanung und -finanzierung oder der Organisation der Notfallversorgung – ganz zu schweigen von der unendlichen Geschichte um die Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ). Vergessen Sie nicht diejenigen, Herr Minister, die das System am Laufen halten!
Ihre
Christine Neumann-Grutzeck
Präsidentin
Erschienen in BDIaktuell 04/2022