Wer im Internet nach einem Facharzttermin sucht, bekommt ungefragt zahlreiche Tipps an die Hand. „Kein Facharzttermin in Sicht? So vermeiden Sie lange Wartezeiten“ bietet die Apotheken Umschau beispielsweise ihre Hilfe an. Auch wenn das hausärztliche Versorgungsnetz ebenfalls dünner wird, zurzeit sind die niedergelassenen Fachärztinnen und Fachärzte der größte Flaschenhals im deutschen Gesundheitswesen.
Die Konsequenzen sind vielschichtig und schwerwiegend: Unzufriedenheit, suboptimale medizinische Versorgung und unnötige stationäre Aufnahmen. Betrachtet man das durchschnittliche Alter der Vertragsärzteschaft im vergangenen Jahr – es betrug 54,5 Jahre – so sollte klar sein: In den kommenden zehn Jahren wird die Anzahl der verfügbaren Arzttermine spürbar abnehmen, bei deutlich zunehmender Nachfrage, wohlgemerkt.
Die Grenzen des Geldes
Was also tun? Eine bei diesem Thema immer gern vorgebrachte Idee ist das Konzept der Bürgerversicherung, also eine Eingliederung der bisher Privatversicherten in die gesetzlichen Krankenversicherungen. Auch wenn diese Idee den argumentativen Charme der Gleichbehandlung aller Bürgerinnen und Bürger hat, fehlt ihr das Potenzial die Anzahl der angebotenen (Fach)arzttermine in Deutschland zu steigern. Warum sollten die Ärztinnen und Ärzte zu schlechteren Bedingungen noch mehr arbeiten? Dies würde nur passieren, wenn sich die Anreizstrukturen derart ändern würden, dass Mehrarbeit zu einem mehr an Einkommen führen würde. Deswegen wäre eine Entbudgetierung der vertragsärztlich erbrachten Leistungen, wie im Koalitionsvertrag übrigens für den hausärztlichen Bereich schon angekündigt, ein besseres Mittel, um die Anzahl der angebotenen Arzttermine in Deutschland zu steigern.
Im Hinblick auf die demografische Entwicklung, die auch vor der Ärzteschaft nicht Halt macht, ist aber mehr als fraglich, ob diese Maßnahme ausreicht, um Angebot und Nachfrage mittelfristig vernünftig übereinzubringen. Deswegen ist verständlich, dass zurzeit allerorts der Ruf nach mehr Steuerung im Gesundheitswesen zu vernehmen ist. Die Grundidee ist klar: Je knapper Facharzttermine werden, desto wichtiger ist es, dass wirklich nur derjenige zum Facharzt geht, der ihn auch wirklich braucht.
Interessant in diesem Kontext ist Baden-Württemberg, wo schon seit mehr als einem Jahrzehnt mit der hausarztzentrierten Versorgung (HZV) ein Primärarztsystem „light“ etabliert ist. Warum Primärarztsystem „light“? Für die teilnehmenden Patienten ist es trotz Einwilligung in das hausarztzentrierte Versorgungskonzept sanktionsfrei möglich, einen Facharzt aufzusuchen. Diese Optionen nehmen viele Patienten gerne in Anspruch.
Eine kürzlich veröffentlichte Studie zeigt, dass die HZV einige Vorzüge bietet: Wer an der HZV teilnahm, musste seltener ins Krankenhaus, erhielt eine bessere Pharmakotherapie und wurde weniger häufig unkoordiniert in einer Facharztpraxis vorstellig. Auch wirtschaftlich bietet das Konzept Vorteile für alle Beteiligten. Dennoch, ein wenig Wasser gehört in den Wein: Das Konzept führt zu einer Zunahme der Hausarztkontakte um mehr als 50 % (+4,4 im Jahr 2018) und reduziert die fachärztlichen Kontakte nur minimal (-0,1 im Jahr 2018). Interessant in diesem Kontext: Hätte es für die Patienten nicht die Möglichkeit einer unkoordinierten fachärztlichen Vorstellung gegeben, hätte es zwei Facharztkontakte pro Teilnehmer und Jahr weniger gegeben.
Das Beispiel HZV zeigt, dass eine stärkere hausärztliche Steuerung durchaus das Potenzial hat, die Versorgungsqualität der Patienten zu erhöhen. Es verdeutlicht aber auch das Risiko einer flächendeckenden Ausweitung dieses Konzeptes – eine ungesteuerte Überlastung der hausärztlichen Versorgung.
Warum MFA die bessere Wahl wären
Es bleibt also die Frage: Wie kann es gelingen die Anzahl der Arztkontakte, die in Deutschland auf internationalem Rekordniveau liegt, effektiv bei idealerweise gleichbleibender Versorgungsqualität zu reduzieren? Will man die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger nicht einschränken, etwa durch eine Praxisgebühr oder eine (teilweise) Aufhebung der freien Arztwahl, so bleibt nur die praxisinterne Delegation von Aufgaben an nicht-ärztliches Personal. Anders wird es in Zukunft nicht möglich sein, dem wachsenden Versorgungsbedarf bei schwindenden ärztlichen Kapazitäten gerecht zu werden.
Auch hier lohnt ein Blick ins Ländle: Im Rahmen der HZV-Verträge gibt es die Möglichkeit, MFA fortzubilden, um sie besser dazu zu befähigen, die Ärztinnen und Ärzte in den Praxen zu unterstützen. Dieser Weg hat sich in der Evaluation der HZV als erfolgversprechend erwiesen und birgt den Vorteil, die Primärversorgung der Bürger in hausärztlicher Hand zu behalten. Die Alternative, eine Auslagerung von bisher ärztlich erbrachten Leistungen zu Gemeindeschwestern oder in Gesundheitskioske, ist sicherlich für alle Seiten die schlechtere Wahl, da die ärztliche Kompetenz den Strukturen entrückt und neue Schnittstellen entstehen.
Ein Beitrag von PD Dr. Kevin Schulte, 2. Vizepräsident des BDI, erschienen in der BDI aktuell 09/2023