Unter dem Hashtag #OhGottPJ teilen Medizinstudierende auf Twitter regelmäßig ihre Erfahrungen aus dem Praktischen Jahr. Die Kurznachrichten werden von tausenden Leserinnen und Lesern gelikt, retweetet und kommentiert. So entstehen interessante Einblicke in das PJ aus ganz Deutschland. Wer Medizin studiert hat, der kennt einige der Missstände, die dort angeprangert werden: PJler, die als kostenlose Arbeitskräfte missbraucht werden, ernüchternde Lehrbedingungen und häufig auch die fehlende oder geringe Aufwandsentschädigung, die für viele Studierende eine finanzielle Belastung darstellt. Im PJ sollen die Studierenden eigentlich lernen, wie es ist, als Arzt/Ärztin in der Klinik zu arbeiten. Sie sollen lernen, mit zunehmender Verantwortung ihr erworbenes Wissen und Fähigkeiten im klinischen Alltag anzuwenden. Dazu gehören neben dem Schreiben von Arztbriefen auch Blutentnahmen oder das Haken halten im OP. Aber eben nicht nur. Gerade nach dem oft wenig praktischen Studium braucht es in der Regel auch nicht viel, um junge motivierte Menschen zu begeistern. Das geht vor allem über gute Lehre. Die kommt im Alltag aber fast immer zu kurz.
Viele Dinge haben sich in den letzten Jahren deutlich gebessert. Das freut mich sehr für unseren ärztlichen Nachwuchs. Gleichzeitig zeigen die Berichte aber auch, dass bestimmte Strukturprobleme immer noch die gleichen sind wie vor 20 Jahren: Ärztinnen und Ärzte, die mit der Ausbildung betraut sind, haben zu wenig Zeit, es gibt immer noch starre Hierarchien und eine bisweilen toxische Führungskultur. Als kleinstes Rad im Getriebe bekommen PJler die strukturellen Missstände unseres Gesundheitssystems häufig zuerst zu spüren. Diese Bedingungen sollten wir retrospektiv nicht schönreden, romantisieren oder aus Trotz, dass viele von uns diese Erfahrungen auch machen mussten, relativieren. Nun lässt die Diskussionskultur in den Sozialen Medien nicht erst zu wünschen übrig, seitdem Elon Musk Twitter übernommen hat. Dass selbst Kolleginnen und Kollegen sich aber öffentlich übereinander lustig machen oder sich gegenseitig mit Vorwürfen und bösen Unterstellungen verunglimpfen, anstatt die gerechtfertigte Kritik an den Arbeitsbedingungen, der Ausbildung und den strukturellen Missständen ernst zu nehmen und gemeinsam anzugehen, ist befremdlich. Wenn das der Umgangston ist, den wir miteinander pflegen, dürfen wir uns über ein Nachwuchsproblem nicht wundern. Wenn wir nur noch frustriert durch den Tag und die Sozialen Medien gehen und nicht einmal mehr die Energie haben, für einen Strukturwandel zu kämpfen, dann zementiert das nur die Arbeitsbedingungen, unter denen alle zu leiden haben.
Deshalb müssen wir uns fragen, wie wir in einem System, in dem alle Beteiligten zunehmend unter Druck stehen, miteinander umgehen wollen? Und wie wir gemeinsam eine hochwertige Aus- und Weiterbildung sicherstellen können? Politisch müssen wir dafür sorgen, dass der Aus- und Weiterbildung im klinischen Alltag endlich mehr Zeit eingeräumt und sie nicht mehr als Abfallprodukt der täglichen Arbeit hingenommen wird. Eine Reform der Krankenhausfinanzierung, um den wirtschaftlichen Druck und die Arbeitsbelastung zu reduzieren, und eine bessere Finanzierung der Weiterbildung – und zwar sektorenübergreifend – sind deshalb zwingend notwendig. Auch die verschleppte Novellierung der Approbationsordnung muss abgeschlossen werden.
Es ist aber auch eine Frage der Führungskultur. In der modernen Arbeitswelt ist agile Führung ein zentraler Faktor, um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu motivieren und zu befähigen, Höchstleistungen zu erbringen – auch im Krankenhaus oder in der Praxis. Neben der fachlichen Kompetenz brauchen wir deshalb Führungskräfte, die Struktur- und Ideengeber sind und eine positive, wertschätzende Arbeitsatmosphäre schaffen. Politische Rahmenbedingungen und gutes Management: das sind zwei Seiten einer Medaille.
Ihre
Christine Neumann-Grutzeck
Präsidentin
Erschienen in BDIaktuell 12/2022