Als Christian Wilhelm Hufeland 1810 die erste Poliklinik in Berlin gründete, ahnte der berühmte Arzt nichts von den kontroversen Diskussionen, die mehr als 200 Jahre später um die innovativen Gesundheitszentren in Deutschland entstehen sollten. Die Bezeichnung Poliklinik wurde in der ehemaligen DDR für die dortigen Ambulatorien verwendet. Um nicht in Verruf zu geraten, das Modell sozialistischer Staatsmedizin unkritisch zu kopieren, versuchte man nach der Wende, einige Komponenten des Versorgungssystems Ost in die vorwiegend aus Einzelpraxen bestehende Versorgungslandschaft West zu implementieren. Mit dem „Medizinisches Versorgungszentrum“ (MVZ) wurde eine neue, Poliklinik-ähnliche Organisationsform geschaffen. Ziel war es, durch strukturierte Zusammenarbeit von mindestens zwei Ärztinnen oder Ärzten unterschiedlicher Fachrichtung die interdisziplinäre Versorgung zu verbessern und Effizienzreserven im Gesundheitswesen zu realisieren. Im Rahmen der SGB V-Änderung durch das GKV-Modernisierungsgesetz 2003 beziehungsweise das Vertragsarztrechtsänderungsgesetz 2007 wurde so der Einstieg in neue Versorgungsformen geschaffen. Zwei Namen sind mit dieser Entwicklung eng verknüpft: SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt und ihr damaliger politischer Berater Karl Lauterbach. Ulla Schmidt ist bis heute von der Richtigkeit ihrer Entscheidung überzeugt und betrachtet in der Rückschau die Einführung der MVZ als ein „Gewinn für die medizinische Versorgung in unserem Land“.
Aktuell gibt es laut KBV-Statistik bundesweit etwa 4200 MVZ, Tendenz steigend, davon der größte Teil in mittleren oder großen Städten. Rund 27 000 Ärztinnen und Ärzte sind vorwiegend im Angestelltenverhältnis tätig, Träger zu gleichen Teilen in über 80 Prozent Vertragsärzte und Krankenhäuser.
Teils undurchsichtige Strukturen
In den vergangenen 20 Jahren hat sich die MVZ-Landschaft mehrfach geändert, nicht zuletzt mit dem systematischen Aufkauf von kleinen Krankenhäusern und Vertragsarztsitzen durch private Investoren, den Private- Equity-Gesellschaften. Dadurch entstanden teils monopolartige, verzweigte und undurchsichtige Strukturen, insbesondere in den Bereichen Labormedizin, Radiologie, Strahlentherapie und Nephrologie.
Die Bundesärztekammer sieht die freie ärztliche Berufsausübung und die Patientenversorgung durch diese Kommerzialisierung gefährdet, die Kassenärztliche Bundesvereinigung spricht von einer „Ursünde“, die sich nicht mehr einfangen lasse.
Der heutige Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) ist seit vielen Jahren in die MVZ-Gesetzgebung involviert. Nach dem Regierungsantritt 2021 blieben Reformvorhaben zunächst wegen der Corona-Pandemie in der Schublade. Damit ist spätestens seit Ende 2022 Schluss. Der Presse verkündete er, das Verhalten von Investoren mit „absoluter Profitgier“ unterbinden zu wollen und gesetzlich den Aufkauf von Arztpraxen durch „Heuschrecken“ zu verhindern. Spätestens bis Mitte 2023 soll ein entsprechender Gesetzentwurf auf dem Tisch liegen. Die Bundesärztekammer hatte bereits Anfang dieses Jahres ihre Positionen „zum Regelungsbedarf für Medizinische Versorgungszentren“ vorgelegt, Ende März legte die Gesundheitsministerkonferenz der Länder (GMK) mit den „Eckpunkte(n) für ein MVZ-Regulierungsgesetz“ nach. Die GMK hatte schon 2021 und 2022 in ihren Beschlüssen auf die Problematik fortschreitender Investorentätigkeit im Bereich der Medizinischen Versorgungszentren hingewiesen. Der BDI beschäftigt sich schon länger mit der MVZ-Problematik und hat dazu mehrfach Stellung bezogen, zuletzt mit einer positiven Bewertung der GMK-Eckpunkte zur MVZ-Regulierung. Als Ergebnis des verbandsinternen Diskurses erschien im März 2023 das Positionspapier zu den investoren-getragenen Medizinischen Versorgungszentren (iMVZ), in dem einige Forderungen von GMK und BÄK aufgegriffen und präzisiert wurden (s. Kasten).
Was sind nun die zentralen Punkte der Papiere? Beiden gemeinsam ist die Feststellung, dass die ursprüngliche Idee einer Verbesserung medizinischer Versorgung durch interdisziplinäre Angebote „aus einer Hand“ zunehmend untergraben wird. Schuld daran sind einerseits strukturelle Probleme, die der Gesetzgeber selbst geschaffen hat, wie beispielsweise die Ermöglichung fachgruppengleicher MVZ durch das GKV-Stärkungsgesetz 2015. Dadurch wird die Konzentration auf lukrative Leistungen befördert, während andere Kernleistungen des Fachgebietes auf der Strecke bleiben.
Nur wenige MVZ auf dem Land
Darüber hinaus haben sich die Erwartungen einer Versorgungsverbesserung in der Fläche nicht erfüllt, nur 15 Prozent der MVZ befinden sich in ländlichen Regionen. Mit dem unregulierten und vor allem überörtlichen Aufkauf vertragsärztlicher Sitze durch Krankenhäuser oder private Investoren wird die intendierte interdisziplinäre und sektorenverbindende Versorgung vor Ort nicht umgesetzt.
Durch die Bildung von MVZ-Ketten ist weder für Patientinnen oder Patienten noch für medizinische Leistungserbringer die MVZ-Trägerschaft erkennbar. Fehlende Transparenz bei privaten Investoren oder Betreiber-Gesellschaften führt dazu, dass Renditemaximierung in den Vordergrund rückt und die freie ärztliche Berufsausübung ebenso wie eine hochwertige und zugewandte Patientenversorgung behindert werden. „Das Gesundheitswesen ist Teil der Daseinsvorsorge und kann nicht den Regeln der Kapitalmärkte unterliegen ... Gelder dürfen dem System nicht durch Ausschüttung von Renditen entzogen werden“, heißt es in dem BÄK-Papier. Die GMK fordert in den Eckpunkten unter anderem ein gesondertes MVZ-Register sowie eine Kennzeichnungspflicht für MVZ-Träger inklusive der Rechtsform. Darüber hinaus soll die „ärztliche Leitung von MVZ gegen sachfremde Einflussnahme“ geschützt werden und die „Gründungsbefugnis für Krankenhäuser für ärztliche MVZ beschränkt“ werden. Die Bundesärztekammer geht noch weiter und propagiert einen örtlichen und fachlichen Bezug des Krankenhauses zum MVZ. Ähnlich der GMK vertritt die BÄK die Auffassung, dass durch Stärkung der Unabhängigkeit ärztlicher MVZ-Leitung die Versorgung bedarfsgerechter gesteuert werden kann. Dazu gehört laut BÄK allerdings auch, dass künftig nur fachübergreifende MVZ zugelassen werden, um der Entwicklung von Versorgungsmonopolen Einhalt zu gebieten.
Ob Meister Lauterbach es schafft, die Geister zu bändigen, die er seinerzeit als Zauberlehrling rief, bleibt abzuwarten. „In die Ecke, Heuschreck! seid’s gewesen“ – dieser Ruf allein wird nicht genügen, um gut regulierte und gleichzeitig wettbewerbsfähige, der Versorgungsoptimierung dienende MVZ-Strukturen weiterzuentwickeln. Die Forderungen des BDI und der gesamten Ärzteschaft liegen auf dem Tisch. Jetzt geht es darum, deren Umsetzung mit vereinten Kräften voranzutreiben.
Investorengetragene MVZ – Kernpositionen des BDI
- Schaffung eines bundesweiten Transparenzregisters
- Gründungsbefugnis gemäß regionaler Bedarfsplanung und/oder räumlicher Nähe zum Krankenhaus als Träger
- Prüfung des umfassenden Versorgungsauftags durch die KV
- Haltepflicht des Vertragsarztsitzes bei Veräußerung eines MVZ
- Stärkung der MVZ in vertragsärztlicher Hand, Rechtsform der GmbH für die Gründung weiterer eigenständiger MVZ
Ein Beitrag von Dr. Ivo Grebe, BDI-Vorstandsmitglied, erschienen in der BDI aktuell 05/2023
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