BDI AKTUELL: Herr Dr. von Stillfried, die „Neuordnung der Notfallversorgung“ steht ja schon seit einigen Jahren auf der Agenda der Politik. Auch die Ampel- Koalitionäre wollen sich an einer Reform versuchen. Blicken wir mal zurück: Was hat die Politik ursprünglich dazu bewogen, sich dieses Themas anzunehmen?
DR. DOMINIK GRAF VON STILLFRIED: Ich kann mich nicht genau erinnern, ob es einen spezifischen Startpunkt gab. Was ich allerdings als einen wichtigen Abschnitt in der Diskussion sehen würde, ist die deutliche Zunahme der Inanspruchnahme der Notaufnahmen durch Selbsteinweiser nach dem Wegfall der Praxisgebühr im Jahr 2013. Wir hatten damals von einem aufs andere Jahr einen Zuwachs von 11 Prozent bei der Inanspruchnahme. Ein Zuwachs, der sich in den darauf folgenden Jahren noch fortgesetzt hat. Weshalb man gedanklich scheinbar von einer unbremsbaren Lawine ausgegangen ist.
Aber ist diese Lawine in der jüngeren Vergangenheit denn tatsächlich weiter angewachsen?
Nein, eben nicht. Deshalb wäre es ja so wichtig, jetzt auch auf die aktuellen Daten zu schauen. Wir haben zwar die Pandemiejahre dazwischen, sehen im Grunde genommen aber den Peak der Inanspruchnahme der Notaufnahmen im Jahr 2016. Und seither eine leichte, aber doch deutliche und stetige Rückläufigkeit bis ins Jahr 2019. Dann kam wie gesagt die Pandemie, die zu viel ausgeprägteren Rückläufen im zweistelligen Bereich geführt hat – diese sind aber natürlich besonderen Einflüssen geschuldet. Wir haben also keine langandauernde gesicherte Zeitreihe. Trotzdem sehen wir, dass die Wiederinanspruchnahme der Krankenhäuser zumindest nur sehr vorsichtig in Gang kommt. Und man hat doch den Eindruck, dass die Inanspruchnahme auch nachhaltig auf einem niedrigeren Niveau bleiben könnte. Gerade die kleineren Häuser spüren das recht deutlich.
Das heißt also, seit fünf Jahren bessert sich die Problemlage von alleine?
Ganz so weit würde ich nicht gehen. Nicht mehr richtig ist aber der erste Satz in vielen Veröffentlichungen: „Die Inanspruchnahme steigt seit Jahren ungebrochen“. Es ist richtig, dass in vielen Notaufnahmen immer noch zu viele Personen behandelt werden, die dort nicht zwingend hingehören. Da gibt es zwei Argumente, die mehr oder weniger gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Das inhaltlich qualitative: Wenn die Notaufnahme durch zu viele Fälle, insbesondere solche, die dort nicht unbedingt behandelt werden müssen, belastet wird, sinkt die Qualität der Notfallversorgung insgesamt. Insbesondere aber für die echten Notfälle, also diejenigen die unbedingt mit notfallmedizinischen Mitteln behandelt werden müssen. Diesem Qualitätsproblem müssen wir uns widmen.
Das andere ist das formale Argument: Die Versicherten haben nur dann Anspruch auf eine Behandlung durch das Krankenhaus, wenn wirklich ein Notfall vorliegt. Wir haben hier in der Vergangenheit noch keine ausreichende Differenzierung vorgenommen. Die notfallmedizinischen Fachgesellschaften gehen davon aus, dass ein Notfall immer dann vorliegt, wenn sich der Patient selbst als Notfall empfindet. Gleichzeitig sagen sie, ein Großteil der Patienten, die sich mit dieser Notfallimpression vorstellen, können eigentlich vertragsärztlich behandelt werden. Die Herausforderung, vor der wir jetzt stehen, ist, dass es gelingt, ein System zu etablieren, das das im Wege der Ersteinschätzung sauber sortiert. Die Patienten, die nicht zwingend in die Notaufnahme gehören, müssen dann eben auch in eine zeitlich und inhaltlich angemessene vertragsärztliche Behandlung überführt werden.
Jetzt wurden in den letzten Jahren ja schon einige Maßnahmen beschlossen. Können Sie uns einen Überblick über den Umsetzungsstand dieser Maßnahmen geben? Welche davon haben bereits ihre Wirkung entfalten können?
Das ist sehr schwer zu beurteilen. Wir haben es hier mit komplexen Interventionen in ein System zu tun, das noch von vielen anderen Einflüssen gesteuert wird. Im Grunde gibt es zwei wesentliche Gesetzesvorhaben, die sich in den nächsten Jahren mit Sicherheit auswirken werden oder auch schon angefangen haben zu wirken: das Krankenhausstrukturgesetz von 2015 (KHSG) und das TSVG, das Terminservice- und Versorgungsgesetz, aus dem Jahr 2019.
Mit dem KHSG wurden die KVen verpflichtet, Bereitschaftsdienstpraxen, sog. Portalpraxen, an Krankenhäusern einzurichten. Das hat auch in den letzten Jahren stark zugenommen. Statistisch gesehen hat jetzt jedes zweite Krankenhaus, das an der Notfallversorgung teilnimmt, eine Bereitschaftspraxis.
Das TSVG hingegen hat die KVen verpflichtet, rund um die Uhr als telefonisch und digitaler Ansprechpartner für die Vermittlung in die vertragsärztliche und überhaupt die Vermittlung in eine angemessene Versorgung zur Verfügung zu stehen. Das kann bedeuten, dass man an den Rettungsdienst oder an eine Notaufnahme verwiesen wird, aber eben auch in die vertragsärztliche Versorgung geleitet wird. Die Rufnummer dafür, die 116 117, hat auch durch die Pandemie deutlich an Bekanntheit zugelegt.
Und dann gibt es noch ein drittes Gesetz, das zwar schon als Gesetz existiert, aber so noch nicht wirken kann, weil es im G-BA konkretisiert werden muss: das Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz, kurz GVWG. Damit werden die Krankenhäuser im Prinzip verpflichtet, ein Ersteinschätzungsverfahren zu etablieren, das die Patienten aussortieren kann, die in die vertragsärztliche Behandlung müssen.
Wäre also Abwarten die klügere Maßnahme?
Das würde ich schon allein deshalb für sinnvoll halten, weil es ja Anzeichen - auch aus der internationalen Literatur – und Erfahrungen aus den Bereitschaftspraxen gibt, die zeigen, dass zusätzliche Angebote an Krankenhäusern einen erheblichen Sogeffekt haben. Insbesondere auf Patienten mit akuten Versorgungsanliegen. Die ursprünglich intendierte Entlastung der Notfallversorgung könnte also konterkariert werden, wenn man zusätzliche Angebote im Sinne der diskutierten Integrierten Notfallzentren, der INZ, schaffen würde. Insbesondere dann, wenn diese, wie nach Vorstellung der Krankenkassen, rund um die Uhr fallabschließend behandeln und damit eine echte Alternative zum normalen Praxisbesuch bieten würden. Gerade in den Großstädten könnten sehr, sehr viele jüngere Patienten dann diesen Weg wählen. Damit würden also die Akutpatienten aus den Praxen umgelenkt werden.
Das Reservoir ist riesig. Wir gehen derzeit von ungefähr 200 Millionen Fällen pro Jahr aus. Um das in eine Größenordnung zu setzen: Derzeit werden in den Notaufnahmen 20 Millionen Patienten behandelt. Etwa die Hälfte davon ambulant.
Wir haben nun festgestellt, die INZ bringen die erhoffte Entlastung eher nicht. Wie könnten die Patienten denn koordiniert werden?
In der Sprache der Medizin sind die INZ ein chirurgischer Eingriff ins Gesundheitssystem, der sozusagen der plastischen Chirurgie entspricht. Hier wird das Gesicht des Gesundheitswesens umgestaltet. Die andere Alternative wäre, minimalinvasiv vorzugehen und zu sagen, wir stellen dem Krankenhaus technische Hilfsmittel zur Verfügung. Das wäre zum einen das Ersteinschätzungsverfahren und zum anderen ein datentechnisch einfacher Weg, mit einer Praxis zu kommunizieren, die den Patienten annimmt. Denkbar wäre, dass man das mit IVENA macht. IVENA wäre eine Software, die erlaubt, vom Krankenhaus einen Patienten anzumelden. Die Praxis bestätigt, dass sie den Patienten annehmen wird, der Patient geht dort hin und die Praxis bestätigt, dass er dort angekommen ist. Man hätte eine einfache Kommunikationsebene.
Die Technik wäre eigentlich da. Wir stehen im Augenblick vor der Herausforderung, zu belegen, dass es funktioniert, das heißt, wir müssen eine Studie aufsetzen. Wenn wir zeigen können, dass die Ersteinschätzung in den Händen der Pflegekräfte gut funktioniert, dass Patienten nicht gefährdet sind, glaube ich, dann hätten wir den notwendigen Schritt. Der G-BA muss dafür jetzt den Rahmen und die Zeit schaffen, dass wir dieses Vertrauen gewinnen können.
Das Interview führte Dr. med. Kevin Schulte