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Der Protest muss lauter werden

Die Schere zwischen den Kosten für Personal sowie Energie und der Vergütung durch die Kassen klafft immer weiter auseinander. Aber nicht nur deshalb sind die Rahmenbedingungen für die Weiterentwicklung der ambulanten Medizin aktuell viel zu eng.

© Phil Dera / BDI

Schleppende Digitalisierung, Fachkräftemangel, Corona-Pandemie, überflüssige Bürokratie, gestiegene Energiekosten bei massiver Inflation, Ukrainekrieg mit zahlreichen Geflüchteten – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Die Herausforderungen, vor denen die 160 000 Vertragsärztinnen und Vertragsärzte in unserem Land stehen, sind gewaltig. Und was tun wir? Halten die Füße still, heulen kurz auf, wenn es heißt: nach zähen Verhandlungen und dank des Spruchs der Schiedskommission (die Kassen wollten eine Nullrunde!) ist im Jahr 2023 mit einer Punktwertsteigerung von sage und schreibe zwei Prozent zu rechnen.

Kein Streikrecht, na und?

Mangels Streikrechts für niedergelassene Ärztinnen und Ärzte überlassen wir den Protest den Verbänden oder Körperschaften. Ist doch bequemer, als selbst aktiv zu werden, alles andere hat keinen Zweck, so denken viele Kolleginnen und Kollegen. Ein Blick über den berühmten Tellerrand reicht, um Rezepte gegen anhaltende Lethargie und Resignation zu entdecken. Im Vereinigten Königreich streiken die Beschäftigten – Mediziner wie Pflegeberufe – des National Health Service (NHS) für ein Ende der Mangelwirtschaft, angemessene Entlohnung und Wertschätzung durch die Politik. Im Nachbarland Frankreich rufen die Gewerkschaften wegen der geplanten Rente mit 62 zu flächendeckenden Streiks auf.

Hierzulande lässt die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di die Muskeln spielen und fordert – begleitet von Warnstreiks – für die Angestellten von Post und DHL 15 Prozent (in Worten: fünfzehn!) mehr Lohn. Der Fachverband der Medizinischen Fachangestellten ruft zu einer erneuten Protestkundgebung in Berlin auf – die Bezahlung ist im Vergleich zu ähnlichen Ausbildungsberufen weiterhin viel zu niedrig. Auch die HNO-Kolleginnen und Kollegen haben sich aus der Defensive gewagt und ihrem Unmut Luft verschafft. Viele entschieden sich Anfang des Jahres wegen unzureichender Bezahlung, die ambulante operative Tätigkeit einzustellen. Dies hat ihnen nicht nur Beifall eingebracht, zumal vorwiegend Kinder von den verschobenen Operationen betroffen waren. Eins aber ist durch die Proteste deutlich geworden: Die aktuellen Rahmenbedingungen sind für die Weiterentwicklung der ambulanten Medizin viel zu eng. Wenn Politik und Kassen nicht endlich die Hilferufe der niedergelassenen Ärzteschaft ernstnehmen, können keine tragfähigen Lösungen und Konzepte für die ambulante Medizin gefunden werden. Das defizitäre EBM-System muss den veränderten Bedingungen angepasst werden. Für einen solchen Schritt braucht es den politischen Willen und die Gesprächsbereitschaft der verantwortlichen Kassen.

Genau darin besteht das Problem: Vonseiten des Gesundheitsministeriums sind weder ein offener Gesprächskanal für die Anliegen der Vertragsärzteschaft noch der Wille zu substanziellen Reformen erkennbar. Lauterbach plant gemeinsam mit den Ländern die „Revolution“ des Krankenhaussektors und die partielle Abschaffung der DRG. Dabei lässt er völlig außer Acht, dass eine nachhaltige, dem veränderten Morbiditätsrisiko angepasste Gesundheitsversorgung der Bevölkerung nur über die gleichzeitige Neuausrichtung des ambulanten Sektors zu erreichen ist. Dazu gehört die Abschaffung der Budgetierung für grundversorgende Haus- und Fachärzte. Der Aufhebung der Budgets für die Kinder- und Jugendmediziner muss zeitnah die im Koalitionsvertrag vereinbarte Entbudgetierung für den hausärztlichen Versorgungsbereich folgen.

Darüber hinaus besteht die Notwendigkeit, auch für die Fachärztinnen und Fachärzte der Grundversorgung – dazu gehören viele internistische Schwerpunkte – die Budgets aufzuheben. Denn die Schere zwischen den Preisen des Marktes bei Personal- und Energiekosten und der Vergütung durch die Krankenkassen klafft immer weiter auseinander. Durch die jüngst vom Gesetzgeber einkassierte Neupatientenregelung des Terminservice- und Versorgungsgesetzes (TSVG) fehlen nach Schätzung des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung der KBV jährlich 400 Millionen Euro an extrabudgetärer Vergütung, vorwiegend für den fachärztlichen Bereich.

Gemeinsame Aktionen notwendig

Es ist an der Zeit, dass die gesamte Vertragsärzteschaft, Haus- wie Fachärztinnen und -ärzte gemeinsam, mit gezielten Aktionen auf ihre Probleme aufmerksam macht. Ob Praxisschließungen am Mittwoch, wie vom SpiFa postuliert, oder umfangreiche Sprechstunden-Angebote für Selbstzahler die richtige Antwort sind, darüber lässt sich streiten. Eins aber ist klar geworden: Wenn wir uns weiter wie tadellose Mitglieder einer Schafherde verhalten, hat die Politik leichtes Spiel. Leere Versprechungen oder freundliche Worte haben wir zu Genüge gehört, die Samthandschuhe können wir ausziehen. Offenbar hat die Politik nichts verstanden oder will es nicht verstehen: die ambulante Medizin steckt in einer tiefen Krise.

Vielleicht sollten wir niedergelassene Kolleginnen und Kollegen, allen voran KBV und Berufsverbände, den streikbereiten Postlern und Angestellten des öffentlichen Dienstes einen Besuch abstatten und uns erklären lassen, mit welchen Mitteln man berechtigten Forderungen Gehör verschafft und so die Politik zum Umdenken zwingt.

Ein Beitrag von Dr. Ivo Grebe, BDI-Vorstandsmitglied, erschienen in der BDI aktuell 03/2023