Seit der Veröffentlichung durch das amerikanische Unternehmen OpenAI Ende November 2022 hat die Künstliche Intelligenz (KI) als Chatbot einen wahren Siegeszug angetreten. Die Software, mit der man sich unterhalten kann, genannt Chat Generativ Pretrained Transformer (kurz ChatGPT), hatte innerhalb von drei Monaten mehr als 100 Millionen Benutzer. Das war bis dahin noch keiner computer-gestützten Anwendung gelungen, auch nicht Instagram oder TikTok.
Grund genug, sich mit KI und deren Erscheinungsformen intensiver auseinanderzusetzen. Mittlerweile hat das EU-Parlament Richtlinien zum Umgang mit KI verabschiedet, die mit den Mitgliedsstaaten noch abgestimmt werden müssen. Im Kern geht es darum, Regeln für generative Systeme wie ChatGPT aufzustellen, um deren Missbrauch zu verhindern (Stichwort: Urheberrecht). Oder die Anwendung zum Beispiel im Gesundheitssystem einem hohen Sicherheitsstandard zu unterstellen (Stichwort: Desinformation, Diskriminierung von Minderheiten). Wer jetzt an die Regulierungswut der EU denkt – die Datenschutzgrundverordnung ist gerade einigermaßen verdaut –, hat nicht ganz Unrecht: Es bleibt der Spagat zwischen Sicherheitsstandards zum Wohle jedes Einzelnen und dem Ermöglichen von Fortschritt und Systemverbesserung ganzer Gesellschaftssysteme.
Zwischen Ethik und Fortschritt
Auch der Deutsche Ethikrat hat sich der Thematik angenommen und im März dieses Jahres eine knapp 300-seitige Stellungnahme mit dem Titel „Mensch und Maschine – Herausforderungen durch Künstliche Intelligenz“ vorgestellt. Die Kernaussage: KI muss die menschliche Entwicklung erweitern, sie darf den Menschen aber nicht ersetzen. Übertragen auf die Medizin heißt das, ein vollständiger Ersatz „des Arztes oder der Ärztin durch KI gefährdet das Patientenwohl. KI kann und darf Ärzte nicht ersetzen“ – so die Vorsitzende des Ethikrates, Professor Alena Buyx. Dieses Wording dürfte vielen aus Diskussionen über die Kooperation mit nicht-ärztlichen Gesundheitsberufen bekannt vorkommen. Die Grenze zwischen Delegation und Substitution ärztlicher Leistungen verschwimmt immer mehr und es ist nur eine Frage der Zeit, bis akademisierte Fachberufe in der Breite die Erlaubnis erhalten, ärztliche Leistungen eigenverantwortlich auszuüben. Die Hebammen haben es in der Geburtshilfe bereits geschafft, Physio- und Ergotherapeuten werden folgen, der Physician Assistent (PA) ist an vielen Krankenhäusern etabliert.
KI hat keinen Zeitdruck
Müssen wir also bei der KI die gleiche Entwicklung befürchten? Klare Antwort: Ja. Bereits heute ist KI in den Bereichen Bildgebung / Radiologie, feingewebliche Analyse / Histologie oder in der Dermatologie besser als Ärzte in der Lage, pathologische von nicht-pathologischen Befunden zu diskriminieren. Selbst in der Anamneseerhebung sind ChatBots mittlerweile so gut, dass sie eine plausible Diagnose liefern. Auch die Akzeptanz von Patientenseite ist erstaunlich gut, wie Professor Martin Hirsch aus Marburg, Experte für Digitale Medizin und Entwickler der ADA-App, weiß. Benutzer dieser Gesundheits-App berichten, „endlich habe mal jemand zugehört“ oder man sei „ohne Zeitdruck richtig verstanden worden“.
Diese wenigen Beispiele zeigen: KI ist in allen Bereichen der Medizin auf dem Vormarsch, selbst dort, wo bis vor wenigen Jahren noch jeder überzeugt war, die ärztliche Expertise sei unangreifbar. Was bedeutet diese Entwicklung für die Zukunft? Die Mantra-artige Beschwörung, KI dürfe den Arzt nicht ersetzen, reicht nicht aus. Solange wir nicht definieren, was unantastbare ärztliche Kernkompetenzen sind und diese Position klar und deutlich in Politik und Gesellschaft tragen, werden sich andere Akteure, allen voran die KI mit ihren unterschiedlichen Anwendungsbereichen, traditionelle ärztliche Tätigkeiten aneignen. Unsere Chance besteht darin, die Herausforderung des technologischen Fortschritts anzunehmen. Digitale Anwendungen können ärztliche Entscheidungen unterstützen, dürfen sie aber niemals ersetzen. Die persönliche ärztliche Verantwortung bleibt unantastbar. KI hat keinen Intellekt per se, KI imitiert menschliche Intelligenz. Das selbstreflektive Denken, ein wichtiges Element der Intelligenz, bleibt dem Menschen vorbehalten.
Zur Basis der Medizin gehört das Vertrauen. Damit ist nicht nur das Arzt-Patienten-Verhältnis gemeint. Auch in Forschung und Wissenschaft spielt Vertrauen eine große Rolle. Ärzte und Wissenschaftler müssen sich darauf verlassen können, dass Veröffentlichungen nicht mit LLM (large language models), also ChatGPT, verfasst werden. Eine große Herausforderung, der wir uns als Ärzteschaft stellen müssen. Im Umgang mit KI wird vor Kompetenzverlust gewarnt. Aber auch das Gegenteil ist richtig: Durch technische Ergänzung (OP-Roboter), den klugen Einsatz digitaler Anwendungen (Telemedizin) oder die Bewältigung riesiger Datensätze mithilfe von KI lässt sich ärztliche Kompetenz erweitern. Anders ausgedrückt: KI wird nicht die Ärztin oder den Arzt ersetzten. Vielmehr werden etwa Internistinnen und Internisten, die KI nicht anwenden, durch diejenigen abgelöst, die sich mit KI beschäftigen.
Ein Beitrag von Dr. Ivo Grebe, BDI-Vorstandsmitglied, erschienen in der BDI aktuell 07+08/2023