Ärztliche Arbeitszeit ist ein knappes Gut, das wirkungsvoll zum Wohl der Patientinnen und Patienten eingesetzt werden muss. Im Vordergrund muss dabei immer stehen, dass genug Zeit für das Gespräch mit den Patientinnen und Patienten vorhanden ist. Die Knappheit ärztlicher Arbeitszeit wird in Zukunft noch zunehmen, da die geburtenstarken Jahrgänge auch unter den Ärztinnen und Ärzten in den nächsten Jahren in Ruhestand gehen werden und Nachwuchs nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung steht. Bedauerlicherweise wurde es versäumt, die Zahl der Medizinstudienplätze entsprechend deutlich zu erhöhen: 2020 kamen ca. 975 000 Bewerberinnen und Bewerbern auf ca. 9600 freie Plätze in Deutschland1.
Im internationalen Vergleich erbringen wir in Deutschland mehr medizinische Leistungen stationär als in den meisten anderen Ländern. Eine Reihe von bislang stationär durchgeführten diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen wird in Zukunft teilstationär und ambulant erfolgen. Dazu werden die Krankenhäuser mehr Möglichkeiten zur ambulanten Leistungserbringung erhalten müssen, gleichzeitig werden neue Aufgaben auch auf niedergelassene Ärztinnen und Ärzte zukommen. Insgesamt ist von einer solchen Entwicklung eine Entlastung im Hinblick auf die Kosten, aber auch auf die Gesamtarbeitszeit im nicht-ärztlichen und ärztlichen Bereich zu erwarten, wenngleich Verschiebungen zwischen den aktuellen Sektoren auftreten werden.
VERAH und NäPA werden wichtiger
Angesichts der knappen ärztlichen Arbeitszeit wird die Delegation bisheriger ärztlicher Tätigkeiten an nicht-ärztliche Berufe zunehmend an Bedeutung gewinnen. Dabei spielen Versorgungsassistentinnen und -assistenten der Hausarztpraxis (VERAH) und Nicht-ärztliche Praxisassistentinnen und -assistenten (NäPA) eine besonders wichtige Rolle. VERAH sind erfahrene Medizinische Fachangestellte oder Angehörige anderer medizinischer Fachberufe, die strukturierte Weiterbildungsmaßnahmen durchlaufen haben und delegierte Aufgaben zur Entlastung übernehmen. Dazu gehören neben Praxistätigkeiten vor allem Hausbesuche. Telemedizinische Anbindungen an die Hausarztpraxis können die Hausbesuche begleiten und zur Intensivierung des Arzt-Patienten-Kontakts und zur Beantwortung von akuten Fragen beitragen. Das VERAH-Konzept wird von den Ärztekammern und den Kassenärztlichen Vereinigungen anerkannt. Politisch ist es sinnvoll, das Konzept im hausärztlichen Bereich in Deutschland weiter auszudehnen und zu erproben, inwiefern sich ähnliche Konzepte auch auf fachärztliche Bereiche hin weiterentwickeln lassen.
Physician Assistant ist ein hochschulisch (in der Regel auf Bachelor-Niveau) qualifizierter medizinischer Assistenzberuf, wobei auch eine Anschlussfähigkeit für andere medizinische Fachberufe bestehen soll. Das Konzept ist in angloamerikanischen Ländern und den Niederlanden schon länger etabliert. In einem gemeinsam von Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Bundesvereinigung herausgegebenen Papier2 werden als Tätigkeitsfelder u.a. die Mitwirkung bei der Erstellung von Diagnose und Behandlungsplan, bei komplexen Untersuchungen, Eingriffen oder Notfallbehandlungen sowie Prozessmanagement und Unterstützung bei der Dokumentation genannt. Studieninhalte und ein Kompetenzkatalog wurden klar festgelegt. Es ist zu erwarten, dass Physician Assistants angesichts der zunehmenden Knappheit ärztlicher Kolleginnen und Kollegen eine zunehmend wichtige Rolle spielen werden.
Wir Grüne streben seit Längerem ein neues Heilberufegesetz an, mit dem wir u.a. die Aus- und Weiterbildungen verbessern, die Aufgaben der verschiedenen Gesundheitsberufe und ihre Beziehung zueinander regeln, Kompetenzausweitungen und Qualifizierungsmöglichkeiten schaffen wollen.
Im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung ist ein weiterer solcher nicht-ärztlicher Gesundheitsberuf explizit erwähnt, die Community Health Nurse. Dieses Berufsbild zielt primär auf Gesundheitsförderung und Prävention sowie auf sozialräumlich orientierte Gesundheitsversorgung in den Städten und auf dem Land ab. Community Health Nurses sind speziell ausgebildete Pflegefachpersonen, die im öffentlichen Gesundheitsdienst oder in multiprofessionellen Teams in Gesundheitszentren u.a. mit Ärztinnen und Ärzten sowie Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern arbeiten. In Ländern wie Kanada oder Finnland ist das Konzept seit langem etabliert, in Deutschland steckt es noch in den Kinderschuhen. Erste Pionierprojekte in der Ausbildung der Community Health Nurse gibt es jedoch bereits. In Gesundheitszentren können Menschen mit Behinderungen, pflegebedürftige Menschen, Familien, werdende Eltern oder Kinder Beratung, Hilfe bei der Bewältigung des Alltags und jeweils auf sie abgestimmte Versorgungsangebote erhalten. Im ländlichen Raum können Community Health Nurses wie früher die Gemeindeschwestern eine große Stütze sein. So wird die Pflege auch für Angehörige einfacher.
Quartierspflege als neues Konzept
Dazu haben wir Grüne schon in unserem Wahlprogramm gefordert, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen für Quartierspflege geschaffen und den Kommunen ermöglicht werden soll, eine verbindliche Pflegebedarfsplanung vorzunehmen, um das Angebot an Pflege vor Ort zu gestalten. Das Konzept soll insbesondere in sozial benachteiligten Regionen und Quartieren entwickelt werden und niedrigschwellig zugänglich sein. Gerade die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass es uns in Deutschland an solchen Konzepten fehlt. Erkrankungsraten und Sterblichkeit waren in sozial benachteiligten Stadtteilen erhöht, Impfraten sind dort oft niedriger.
In Zukunft wird eine deutlich größere Vielfalt an Gesundheitsberufen in Deutschland entstehen. Unser Ziel muss es dabei sein, Gesundheit zu fördern, Prävention zu verbessern und die Versorgung insbesondere von bislang unterversorgten Gruppen und Regionen auszubauen.
2 - Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundesvereinigung. Physician Assistant – Ein neuer Beruf im deutschen Gesundheitswesen, Berlin 2017: https://tinyurl.com/25b63f22
Autor: von Prof. Dr. med. Armin Grau, MdB (Prof. Armin Grau ist seit 2021 Mitglied des Deutschesn Bundestages für Bündnis 90/Die Grünen. Studium der Politikwissenschaften, Germanistik und Geschichte sowie Studium der Humanmedizin; 1987 Approbation als Arzt.)
Erschienen in: BDIaktuell 04/2022