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Anschluss gesucht

Zwanzig Jahre nach Einführung der E-Card soll nun endlich auf der Datenautobahn durchgestartet werden. Aber kann Lauterbachs Digitalstrategie halten, was sie verspricht? Und warum sind andere Länder digital erfolgreicher?

© Phil Dera / BDI

Die Corona-Pandemie ist abgehakt, die Bestimmungen des Infektionsschutzgesetzes laufen pünktlich zu den Ostertagen aus. Jetzt heißt es, maskenlos durchatmen und Kraft tanken für die nächste Herausforderung im Gesundheitssystem. Diese heißt „Digitalisierungsstrategie für das Gesundheitswesen und die Pflege“ und wurde Anfang März von Gesundheitsminister Karl Lauterbach vorgestellt.

Auf 43 Seiten ist nachzulesen, wie die konkreten Schritte aussehen, um unser Gesundheitssystem bis 2030 an die Spitze zu führen. Nicht etwa bei den Ausgaben, denn da gehören wir neben der Schweiz und den USA schon lange zu den Spitzenreitern. Anders beim Digitalisierungsindex: Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung von 2019 belegt Deutschland im internationalen Vergleich Platz 16 und ist damit vor Polen Vorletzter. Daran dürfte sich bis heute nicht viel geändert haben. Die Gründe sind vielfältig und lassen sich grob auf den Punkt bringen: In den Ländern, in denen der Digitalisierungsgrad am höchsten ist, ziehen Politik und andere Stakeholder an einem Strang und erreichen so, dass über 70% aller Gesundheitsdaten elektronisch gespeichert und genutzt werden. Zu diesen Ländern gehören Kanada, Israel, Estland und Dänemark, also Länder unterschiedlicher Größe und mit verschiedenen politischen Systemen.

Gerade die COVID-19-Pandemie hat gezeigt, wie groß die Lücken bei der Digitalisierung unseres Gesundheitswesens sind – zu langsam, zu umständlich und uneinheitlich. Länder wie Israel dagegen sind gute Beispiele, wie eine datenbasierte Steuerung im Gesundheitswesen funktionieren kann.

„Wir machen viele Dinge zu kompliziert“, meinte Minister Lauterbach kürzlich in einem Interview mit der FAZ. Damit hat er ausnahmsweise recht. Wären da nicht der Datenschutz und die viel zitierte Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), eine europäische Verordnung. Der ewige Mahner und höchste Datenschützer der Republik, Professor Ulrich Kelber, hatte in einem Beitrag für das „Deutsche Ärzteblatt“ Ende 2022 darauf hingewiesen, dass während der Pandemie „keine einzige Maßnahme der Bundesregierung am Datenschutz“ gescheitert sei. Und behauptet, es sei ein durchschaubares Manöver, die über viele Jahre verschlafene Digitalisierung im Gesundheitswesen dem Datenschutz anzulasten.

Was Estland anders macht

Über diese steile These kann man geteilter Meinung sein, Fakt aber bleibt: Die endlose Diskussion über Datensicherheit und Datenschutz hat Gegner und Befürworter einer sinnvollen Primär- und Sekundärnutzung von Gesundheitsdaten in Grabenkämpfe verwickelt, statt einen Dialog und konstruktive Lösungen voranzubringen. Die nordischen EU-Mitgliedsstaaten wie Dänemark und Estland haben die DSGVO genauso wie Deutschland implementiert, sind uns aber bei der Digitalisierung um Meilen voraus. In Estland sind mittlerweile mehr als 95 Prozent der Bevölkerung in Besitz einer elektronischen Gesundheitsakte. Der kleine baltische Staat mit seinen 1,3 Millionen Einwohnern gilt als Vorreiter der Digitalisierung des öffentlichen Lebens und des Gesundheitswesens. Estland setzte bei der Umsetzung der E-Health-Strategie seit 2008 auf einen Mix aus gesetzlichen Vorschriften, finanziellen Anreizen und Sanktionen. Das Vertrauen in die Politik ist groß: weniger als ein Prozent der Bevölkerung macht von der Opt-out-Möglichkeit Gebrauch und lässt die elektronische Akte ganz oder teilweise sperren.

Ganz ähnlich in Dänemark. Auch hier erleichtert das hohe Vertrauen der knapp 6 Millionen Dänen in das Handeln ihrer Regierung die Einführung moderner Technologien. Bereits 1996 wurde der erste nationale Aktionsplan zur Digitalisierung des Gesundheitssystems ausgerufen. Seit 2004 sind die Hausärzte zur Nutzung digitaler Kommunikationswege und der E-Patientenakte verpflichtet, das Gleiche gilt mittlerweile für Kliniken und alle übrigen Leistungserbringer. Separate Gesetze für den Datenschutz wurden nicht eingeführt, dafür aber die vorbestehenden Regularien weiterentwickelt und angepasst. Darüber hinaus stehen Daten aus der elektronischen Patientenakte ohne explizite Zustimmung seitens der Patienten zur Sekundärnutzung für die Gesundheitsforschung zur Verfügung.

Der Blick vor die eigene Haustür dagegen zeigt, dass Deutschland in puncto Digitalisierung Vertrauen verspielt hat und im europäischen Vergleich abgehängt ist. Man hat schlicht den Anschluss verpasst und ist mit halbherzigen Lösungen hinterhergelaufen. Im GKV-Modernisierungsgesetz wurde 2003 mit Einführung der elektronischen Gesundheitskarte der Grundstein für eine Modernisierung und Digitalisierung im Gesundheitswesen gelegt. 2015, nach zwölf (!) Jahren digitalem Stillstand, trat das umstrittene E-Health-Gesetz in Kraft. Es folgten endlose Diskurse über Datenschutz, Patientenrechte, Telematikinfrastruktur und das Arzt-Patienten-Verhältnis – ohne greifbare Fortschritte.

Opt-out als neuer Weg

Heute, zwanzig Jahre später haben die politisch Verantwortlichen erkannt, dass ohne „Top-down“ eine konstruktive Lösung in weite Ferne rückt. Dem Beispiel Frankreichs folgend, wo die Regierung seit 2022 die E-Patientenakte als Opt-out-Version eingeführt hatte, verkündet das Gesundheitsministerium jetzt, dass bis Anfang 2025 achtzig Prozent aller gesetzlich Versicherten mit einer funktionierenden, elektronischen Patientenakte ausgestattet sein sollen. Gleichzeitig soll die erweiterte Datenschutzaufsicht umstrukturiert und damit der Datenzugang zu Forschungszwecken vereinfacht werden. Das klingt engagiert und schlüssig.

Schon lange beklagen führende Wissenschaftler die langwierigen Genehmigungsprozesse zur Datenakquise bei Forschungsvorhaben. Dies unterstrich auch der neue Vorsitzende des Sachverständigenrates im Gesundheitswesen (SVR), Professor Michael Hallek, Internist und Onkologe. Durch technisch sicheren und professionellen Umgang mit den Gesundheitsdaten können seiner Meinung nach die forschende Medizin und letztlich auch Patientinnen und Patienten profitieren. Es sei ein Missverständnis, dass der Datenschutz beschnitten werde.

Recht hat er damit. Es bleibt zu hoffen, dass die Stimmen der Wissenschaft und des klugen Sachverstandes beim Bundesbeauftragten für den Datenschutz und bei der Politik Gehör finden.

Ein Beitrag von Dr. med. Ivo Grebe, Vorstandsmitglied des BDI, erschienen in der BDI aktuell 04/2023