Ärztinnen und Ärzte sind verpflichtet, alle Maßnahmen und Ergebnisse, die für die Behandlung ihrer Patientinnen und Patienten maßgeblich sind, in deren Patientenakte zu dokumentieren. Außerdem müssen sie den Patienten die Möglichkeit geben, eben jene Akte einzusehen. Bei minderjährigen Patienten haben normalerweise die Sorgeberechtigten ein Recht auf Einsicht. Das kann in der Praxis zu Problemen führen – zum Beispiel dann, wenn die Eltern getrennt leben, aber das gemeinsame Sorgerecht ausüben. Verlangt der eine Elternteil in diesem Fall Informationen über die Behandlung seines Kindes, während der andere Elternteil eine solche Einsichtnahme verhindern will, steht der Arzt vor einem Dilemma.
So auch in einem Fall, den das Amtsgericht Siegen im Mai 2022 zu entscheiden hatte (Az. 14 C 1101/20). In dem zur Entscheidung stehenden Fall erhob der Vater Klage auf Auskunftserteilung hinsichtlich der vollständigen den gemeinsamen Sohn betreffenden Patientenakte und gewann. Das Urteil gestand ihm gemäß § 630 g Abs. 1 S. 1 BGB das Recht auf Einsicht in die Patientenakte seines Sohnes zu. Eine solche Einsicht dürfe der Behandler nur dann verweigern, wenn therapeutische Gründe entgegenstünden oder „erhebliche Rechte Dritter“ tangiert seien.
Hierunter fallen solche Fälle, in denen aufgrund der Kenntnisnahme die Gefahr einer erheblichen Selbstschädigung des Patienten anzunehmen ist. Solche Gründe waren aber im vorliegenden Fall weder ersichtlich noch dargelegt worden. Auch die Schweigepflicht stehe einem Auskunftsanspruch nicht entgegen, so das Gericht. Aufgrund der Personensorge für ihre Kinder seien Eltern befugt, über deren persönliche Verhältnisse umfassend informiert zu sein. Andernfalls könnten sie ihr Sorgerecht nicht ausüben und ihrer Fürsorge- und Erziehungspflicht nicht nachkommen. Zwar stehe auch minderjährigen Patienten gegenüber den Eltern ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu, das gegen die Rechte des Sorgeberechtigten abzuwägen sei. Im konkreten Fall ergebe diese Abwägung jedoch, dass die eines Fünfjährigen nicht ohne Beteiligung des Sorgeberechtigten möglich sei.
Nach der Rechtsprechung des BGH bedarf es bei einem minderjährigen Kind in den Fällen, in denen die elterliche Sorge beiden Eltern gemeinsam zusteht, zu einem ärztlichen Heileingriff der Einwilligung beider Elternteile. Im Zivilrecht ist geregelt, dass die elterliche Sorge für Minderjährige beiden Elternteilen gemeinsam zusteht. Rechtsgeschäftlich bedeutet dies, dass beide Eltern ihr Kind im Sinne einer Gesamtvertretung vertreten müssen (§ 1629 Abs. 1 S. 2 BGB). Wenn die Einwilligung der Eltern in einen ärztlichen Eingriff bei ihrem Kind auch kein Rechtsgeschäft ist, sondern „Gestattung oder Ermächtigung zur Vornahme tatsächlicher Handlungen, die in den Rechtskreis des Gestattenden eingreifen“, so ist auch diese Einwilligung Ausübung der elterlichen Personensorge mit der Folge, dass sie grundsätzlich wirksam nur im Einvernehmen beider Eltern erteilt werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 28.06.1988 – VI ZR 288/87)
Dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung folgend gibt es drei Stufen, die bei der Abwägung zur Einwilligung durch beide Elternteile zu beachten sind:
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In Routinefällen darf der Arzt davon ausgehen, dass der mit dem Kind beim Arzt erscheinende Elternteil ermächtigt ist, die Einwilligung in die ärztliche Behandlung für den abwesenden Elternteil mitzuerteilen, worauf der Arzt in Grenzen vertrauen darf, solange ihm keine entgegenstehenden Umstände bekannt sind.
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In anderen Fällen, in denen es um ärztliche Eingriffe schwererer Art mit nicht unbedeutenden Risiken geht, wird sich der Arzt darüber hinaus vergewissern müssen, ob der erschienene Elternteil die Ermächtigung des anderen hat und wie weit diese reicht; er wird aber, solange dem nichts entgegensteht, auf eine wahrheitsgemäße Auskunft des erschienenen Elternteils vertrauen dürfen. Darüber hinaus kann es angebracht sein, auf den erschienenen Elternteil dahin einzuwirken, die vorgesehenen ärztlichen Eingriffe und deren Chancen und Risiken noch einmal mit dem anderen Elternteil zu besprechen.
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Geht es um schwierige und weitreichende Entscheidungen über die Behandlung des Kindes, etwa um eine Herzoperation, die mit erheblichen Risiken für das Kind verbunden ist, dann liegt eine Ermächtigung des einen Elternteils zur Einwilligung in ärztliche Eingriffe bei dem Kind durch den anderen nicht von vornherein nahe. Deshalb muss sich der Arzt in einem solchen Fall die Gewissheit verschaffen, dass der nicht erschienene Elternteil mit der vorgesehenen Behandlung des Kindes einverstanden ist (so BGH, Urteil vom 15.6.2010 – VI ZR 204/09).
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